Hunderte Seiten Anklageschrift, Spesenausschweifungen und eine «Tour de Suisse durchs Rotlichtmilieu»: Der Prozess gegen den Ex-Raiffeisen-Boss Pierin Vincenz (65) ist mit Abstand der grösste in der jüngeren Schweizer Wirtschaftsgeschichte – und sorgt entsprechend für Schlagzeilen.
Gegenüber den Zeitungen der «CH Media» kritisiert nun Marianne Heer den Umgang der Öffentlichkeit mit dem Prozess scharf. Heer ist selbst ehemalige Richterin und lehrt an den Universitäten Bern und Freiburg.
«Selbst ernannte Experten ohne Aktenkenntnisse»
Es sei ein «hochproblematisches Phänomen», dass Strafverfahren immer mehr in der Öffentlichkeit aufgetragen werden, so die Juristin. «Noch schlimmer ist es, dass dies noch durch selbst ernannte Experten ohne Aktenkenntnisse kommentiert wird.»
Dass die Justiz sich der Öffentlichkeit stellen muss, sei zwar wichtig, werde im Fall Vincenz aber ad absurdum geführt, kritisiert Heer – denn die Unschuldsvermutung werde damit stark in Mitleidenschaft geführt. Es brauche Richterinnen und Richter mit starker Persönlichkeit, um diesem Einfluss zu widerstehen.
Medienrummel könnte Strafminderung bedeuten
Wie unbedarft man in der Öffentlichkeit von einem strafbaren Verhalten von Herrn Vincenz ausgehe, sei bemerkenswert und bedenklich, so Heer weiter. «Eine solche Hetzjagd gegenüber Herrn Vincenz ist für mich ungeachtet eines späteren Ergebnisses des Prozesses nicht hinzunehmen, das steht einem Rechtsstaat schlecht an.»
Heer geht sogar davon aus, dass die Vorverurteilung in der Öffentlichkeit im Fall eines Schuldspruchs Vincenz gar nützen könnte, indem er Strafminderung bekommen könnte.