Düstere Stimmung im grossen Kanton
Wie die deutsche Wirtschaft in die Krise stürzte

Deutschland wurde vom Krisenland zu Europas Wirtschaftsmotor, nur um dann erneut abzustürzen. Die Geschichte der aktuellen Krise in unserem Nachbarland. Und was es braucht, damit es im grossen Kanton wieder aufwärts geht.
Publiziert: 15.02.2025 um 15:10 Uhr
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Aktualisiert: 16.02.2025 um 08:52 Uhr
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Menschenmassen am Brandenburger Tor während des Mauerfalls 1989. Von der Euphorie von damals ist nichts mehr übrig.
Foto: imago images/imagebroker

Auf einen Blick

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Peter Rohner
Peter Rohner
Handelszeitung

Die Debatten werden hitziger, die Spannung steigt. Am 23. Februar wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Es handelt sich dabei um vorgezogene Neuwahlen, die ersten seit 2005. Das zeugt von der ausserordentlich schwierigen Lage, in der sich Deutschland befindet. Zwei Jahre hintereinander ist die Wirtschaft geschrumpft, während andere EU-Staaten einen Aufschwung erleben. Deutschland hat den Anschluss verloren.

Wie konnte der Wirtschaftsmotor Europas und Exportweltmeister so tief fallen? Um die deutsche Misere zu verstehen, muss man weiter zurückschauen. Mindestens bis zur Wiedervereinigung. Denn ohne den Fall der Mauer gäbe es keine Annäherung an Russland und vielleicht auch keinen Euro, und ohne günstige Wechselkurse und Energie kein Selbstverständnis eines Exportchampions. Aber beginnen wir der Reihe nach.

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Wiedervereinigungsboom und Ernüchterung

Die Geschichte des vereinigten Deutschland beginnt mit einem kurzen Wirtschaftswunder. Nach dem Fall der Berliner Mauer herrscht Aufbruchstimmung. Osteuropa und Russland könnten Partner werden, neue Absatzmärkte entstehen. Die Euphorie erfasst die Wirtschaft, es wird gebaut und investiert, trotz schwieriger Weltkonjunktur. Während in Japan die Finanz- und Immobilienblase platzt und die angelsächsischen Länder in eine Rezession rutschen, verzeichnet Westdeutschland in den Jahren 1991 und 1992 die höchsten Wachstumsraten seit den 1960er-Jahren.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

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Doch schon bald folgt die Ernüchterung. Im Osten ist der erhoffte selbsttragende Aufschwung ausgeblieben, und in den alten Bundesländern heizt der Wiedervereinigungsboom die Inflation an und mündet – unter gütiger Hilfe einer sehr strengen Zinspolitik der Bundesbank – 1993 in die bis dahin schwerste Rezession der Nachkriegszeit.

Auch die Erholung danach verläuft zäh, die Arbeitslosenquote steigt bis 1997 weiter auf rekordhohe 12 Prozent. Die Situation bessert sich erst, als die Weltkonjunktur nach der Asienkrise wieder anzieht, angefacht durch einen Technologie- und Produktivitätsschub in den USA sowie durch die globalisierten Handels- und Kapitalströme. Doch auch in der Blütezeit der Dotcom-Jahre hinkt Deutschland wirtschaftlich nicht nur den USA hinterher, sondern auch den anderen EU-Ländern, wo die Angleichung ans tiefe deutsche Zinsniveau vor der Euro-Einführung die Konjunktur belebt.

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Europas kranker Mann

«Von der ökonomischen Lokomotive zum wirtschaftlichen Schlusslicht in der EU» – der Titel könnte von heute sein, er stammt aber aus einem Arbeitspapier der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung zum Zustand der deutschen Wirtschaft im Jahr 2001. Die Arbeitslosenquote liegt zu Beginn des neuen Jahrtausends zum ersten Mal über dem EU-Schnitt. Als dann nach dem Platzen der Dotcom-Blase auch noch die US-Rezession nach Europa überschwappt, wird Deutschland definitiv zum kranken Mann der EU.

Selbst das Exportgeschäft harzt. Deutsche Produkte sind auf dem Weltmarkt teuer geworden, die hohen Lohnnebenkosten sind ein Faktor. Bundeskanzler Gerhard Schröder reagiert auf die Krise mit der Agenda 2010, die unter anderem die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Senkung der Lohnnebenkosten umfasst. Es markiert einen Wendepunkt.

Der Reformkanzler ist auch für eine andere folgenschwere Weichenstellung verantwortlich. Er legt mit seinen engen Beziehungen zu Putin den Grundstein für die Abhängigkeit Deutschlands vom russischen Gas.

Gerhard Schröder (links) näherte sich Wladimir Putin an.
Foto: Keystone

Doch zu Beginn der Nullerjahre passiert noch mehr, das Deutschland noch länger prägen wird: die Einführung des Euro und Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO. Mit der Öffnung beginnt Chinas rasanter wirtschaftlicher Aufstieg.

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Die goldenen Jahre

Der Euro sorgt zu Beginn in Spanien, Italien oder auch Griechenland für einen Kredit- und Nachfrageboom und ebnet Deutschland den Weg zur führenden Exportnation. Denn für deutsche Unternehmen ist der Euro unterbewertet und verschafft ihnen einen Wettbewerbsvorteil. Die Lohnzurückhaltung verstärkt den Effekt. Die Exporte schiessen in die Höhe und überragen die Importe bei Weitem. Anders als zu Zeiten der D-Mark werden die Überschüsse nicht mehr durch eine Aufwertung der Währung reduziert. 

Die Abnehmer der deutschen Produkte sind aber nicht nur die anderen Euro-Länder, sondern in besonderem Masse auch China, das vor allem das benötigt, was Deutschland besonders gut kann: Maschinen und Autos. Sechs Mal hintereinander, von 2003 bis 2008, ist Deutschland sogar Exportweltmeister. Darauf ist man stolz, man trug den Titel schon in den 1980er-Jahren. Gemäss Wirtschaftshistoriker Jan-Otmar Hesser reicht die Export-Obsession bis ins Kaiserreich zurück. 

Der jährliche Handelsüberschuss steigt zwischen 2000 und 2007 von 60 auf fast 200 Milliarden Euro. Der Exportboom geht Hand in Hand mit einem unterdrückten Konsum und einer Sparquote, die noch höher ist als sonst schon, weil die geburtenstarken Jahrgänge zwischen vierzig und fünfzig nun in der sogenannten «Ansparphase» sind. Investiert wird der Sparüberschuss zum Beispiel über die Banken in verbriefte US-Hypotheken.

Das reisst in der Finanzkrise 2008 auch einige deutsche Banken in den Abgrund, aber ansonsten übersteht Deutschland die grosse Rezession verhältnismässig gut. Denn China schnürt in der Folge ein gigantisches Stimuluspaket, das die deutsche Exportindustrie schnell wieder aufblühen lässt.

Auch die Euro-Staatsschuldenkrise wirft Deutschland nicht aus der Bahn. Im Gegenteil: Der Euro wird noch schwächer und kurbelt die Wirtschaft an. Durch die extrem lockere Geldpolitik der EZB und die Kapitalflucht von der Peripherie in den Kern der Euro-Zone sinken die Zinsen unter die Inflationsrate.

Jetzt läuft alles für Deutschland: niedrige Realzinsen, eine unterbewertete Währung, wachsende Absatzmärkte in Asien und billiges russisches Gas. Und zum ersten Mal seit den 1990er-Jahren wird auch der Immobilienmarkt vom Tiefzinsboom erfasst. Unter Kanzlerin Angela Merkel erlebt Deutschland ein goldenes Jahrzehnt, in dem die Wirtschaft im Durchschnitt real 2 Prozent pro Jahr wächst. 2019 erreicht die Arbeitslosenquote bei 5 Prozent den tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung. Die Dynamik zieht qualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt an. Berlin ist das neue London.

Unter Angela Merkel erlebte die deutsche Wirtschaft ihren Höhepunkt.
Foto: AP
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Der Absturz

Doch dann kommt Corona: Am Anfang deutet nichts darauf hin, dass Deutschland schlechter durch die Pandemie kommt. Trotz starker Einschränkungen – die Schulen bleiben viel länger auf Fernunterricht gestellt als in der Schweiz – ist der wirtschaftliche Einbruch weniger brutal als in anderen Ländern. Doch die Erholung verläuft schleppender als im Rest der Euro-Zone. Die führende Industrienation leidet überdurchschnittlich unter den Liefer- und Materialengpässen und unter Chinas Festhalten an den strengen Covid-Massnahmen.

Ende 2021 übernimmt in Berlin die Koalitionsregierung aus SPD, FDP und den Grünen mit Kanzler Olaf Scholz das Ruder. Und ist sogleich gefordert. 

Der Schock sitzt tief, als Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einfällt. Die Hoffnung auf ein friedliches demokratisches Europa, die sich seit dem Fall der Berliner Mauer immer mehr zu materialisieren schien, ist auf einen Schlag dahin.

Es ist eine weltpolitische Zeitenwende. Und Deutschland mittendrin. Es bezahlt für die auf Russland ausgerichtete Energiepolitik einen hohen Preis. Und auch der Ausstieg aus der Kernenergie kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Plötzlich hat Deutschland eines der höchsten Energiepreisniveaus unter den Industrieländern, und das bei einem sehr energieintensiven Branchenmix.

Doch damit nicht genug: China kommt geschwächt aus der Pandemie und leidet unter einer Immobilienkrise. Die Zeiten des grenzenlosen Wachstums sind vorbei – und für Deutschland noch verheerender: Chinesische Anbieter können mittlerweile viele Produkte selbst und günstiger herstellen. Die deutschen Luxuskarren, die lange Zeit ein Statussymbol waren, werden durch lokale Elektro-Boliden konkurriert. 2022 erreichen die Exporte nach China nochmals einen Rekordwert, danach geht es bergab.

Zur Krise im Export kommt in der Binnenwirtschaft der Inflationsschock hinzu, der an der Kaufkraft nagt und in fast allen Industrieländern die Phase der Tiefstzinsen beendet. Auch die EZB hebt die Zinsen, und zwar scharf um insgesamt 4,5 Prozentpunkte. Geld hat wieder einen Preis, der Immobilienboom kommt zum Erliegen, die Baukonjunktur bricht ebenfalls ein.

Unter dem Zinsanstieg und der Kostenexplosion leidet auch das Investitionsklima. Zudem haben Unternehmen keine Planungssicherheit mehr durch die Hü-und-hott-Politik einer zerstrittenen Regierung.

Der Privatkonsum kann die Nachfrageschwäche nicht kompensieren, ab 2022 steigt die Sparquote wieder. Und auch der Staat bleibt klamm, zurückgebunden durch eine Schuldenbremse, die immer mehr Ökonomen als zu starr kritisieren.

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Harte Landung und Neuwahlen

An der Schuldenbremse und am Budgetstreit scheitert auch die Ampelregierung und bricht Ende 2024 auseinander. Und jetzt warten alle gespannt auf die Neuwahlen.

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Vieles mag nun so klingen, als hätte Deutschland nur Pech gehabt. Dass es in der Natur der Sache liegt, dass eine auf Export getrimmte Wirtschaft ein Problem hat, wenn die Globalisierung stockt und sich der wichtigste Handelspartner umorientiert. 

Doch die Geschichte zeigt, dass es viele Mitschuldige gibt für die heutige Misere, dass Weichen falsch gestellt und Probleme ignoriert wurden.

Nun kommt zutage, was in den Boomjahren niemand sehen wollte, weil es ja auch so gut lief: Die Verwaltung ist bürokratisch und ineffizient, die Infrastruktur ist veraltet, die Digitalisierung hat man verschlafen – auch den Trend zur E-Mobilität. Der Fachkräftemangel hat sich ebenfalls schon länger abgezeichnet.

Was jetzt die Wirtschaft in erster Linie braucht, ist mehr Planungssicherheit, damit wieder investiert wird. In wenigen Tagen wird sich zeigen, wem die Deutschen das am ehesten zutrauen.

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