Auf einen Blick
Die AfD an der Macht: Für ein Drittel der Deutschen ist das ein Traum, für zwei Drittel eine Horrorvorstellung. Für die 9000 Bewohner von Raguhn-Jessnitz aber ist es längst Realität. Seit anderthalb Jahren amtet Hannes Loth (43) in der sachsen-anhaltischen Kleinstadt, eine Autostunde südlich von Berlin. Er ist der erste hauptamtliche AfD-Bürgermeister Deutschlands.
«Steigen Sie ein», ruft Loth gut gelaunt. Auf dem Tacho 297'000 gefahrene Kilometer, auf dem Tagesprogramm eine Tour durch die Stadt: «Hier wurde kein Drittes oder Viertes Reich ausgerufen. Die Welt ist nicht untergegangen. Recht und Gesetz gelten auch unter der AfD», sagt er und braust los.
Da die Baustelle für den neuen Stadtpark: 1,5 Millionen Euro. Da der neue Kunstrasen-Fussballplatz: 700'000 Euro. Dort das geplante Feuerwehrzentrum: 4 Millionen. An den Strassenlaternen überall Wahlplakate: 76 pro Partei im Stadtgebiet, nicht eines mehr. 14 Euro Aufhängegebühr. Ordnung muss sein.
Brandmauern zwischen den politischen Parteien? «Nö, gibts hier keine», sagt Loth. «Wir streiten über den Weg, aber nie über das Ziel.» Die nationale Politik denke in Legislaturperioden. «Das sind reine Zweckgemeinschaften. Wir aber teilen ein Schicksal, wir leben alle in derselben Stadt. Wir planen unser Zusammenleben weit über die nächsten Wahlen hinaus.» Da ist Pragmatismus gefragt. Für Ausgrenzungsspielchen sei kein Platz.
Hier stimmt die AfD sogar für Steuererhöhungen
Loth hält beim alten Kanu-Bootshaus an der Mulde, dem grössten Fluss der Gegend. Sein Sohn trainiert hier in einem Kanadier. Ins Boot reinknien, Balance halten, immer auf derselben Seite schlagen: Loth gefällt das. «2004 hats einer aus unserem Verein zu Olympia-Gold gebracht», erzählt er. Christian Gille heisst er. Olympia-Gold: Das wär mal wieder was. Und ein neues Bootshaus wäre ein Anfang. «Mal 'nen Antrag stellen, mal schauen», sagt Loth.
Im August 2023 gewann er die Stichwahl zum Bürgermeister mit 109 Stimmen Vorsprung auf den parteilosen Nils Naumann (33). «Der Hannes hat das im Griff», sagt Naumann am Telefon. Im Stadtparlament stimme die AfD-Fraktion jetzt sogar für höhere Gewerbesteuern und Kita-Abgaben. «Das hätten sie mit mir als Bürgermeister nie getan. Da hätten die weiter auf Protest gemacht.»
Macht macht blind, und manchmal vielleicht auch vernünftig. Zumindest hier in Sachsen-Anhalt. Er könnte sich vorstellen, dass es diesen Vernunfteffekt auch auf nationaler Ebene gibt, sagt der parteilose Naumann. «Was sicher nicht funktioniert, ist, die AfD komplett aussen vor zu lassen. Das ist das Schlimmste, was man machen kann.»
Es habe mit Demokratie nicht mehr viel zu tun, wenn man die zweitstärkste politische Kraft im Land konsequent ausschliesse: «Das macht nur alles noch schlimmer. Damit zwingen sie die AfD-Wähler, ihre Partei noch weiter zu pushen, bis die plötzlich bei 50 Prozent steht.» Spätestens dann werde das ganze Brandmauergerede verstummen.
Brandmauern und Glühweingräben
Drüben im Vereinshaus, neben dem Irrgarten im Stadtteil Altjessnitz, stützt sich Gudrun Dietsch (72) auf eine Stuhllehne. Auf dem Tisch stehen noch die Brettspiele vom Seniorinnen-Nachmittag, im Cheminée liegt Asche. Der «Hannes», das war mal ihr politischer Kontrahent, als sie noch den Freien Wählern im Stadtrat vorstand. Und er war auch mal der Freund ihrer Tochter. Aber darüber will Gudrun Dietsch jetzt nicht reden.
Lieber erzählt sie die Geschichte vom Kirchenchor-Event am vierten Advent. «Da hat Loth danach Glühwein ausgeschenkt. Ich kenne viele, die gingen gleich nach Hause. Von dem lassen die sich nix einschenken», erzählt Dietsch. Weder falsche Versprechen noch Glühwein.
In so einer kleinen Stadt, wo jeder jeden kennt, Brandmauern zwischen politischen Parteien zu errichten, das sei schwierig, sagt Dietsch. Aber Glühweingräben, die gibts. Und den Hallo-Hass: «Es gibt nicht wenige, die grüssen mich nicht mehr, weil sie wissen, wie sehr ich die AfD verabscheue», erzählt die Rentnerin. «Mir macht das Angst, diese gruselige Situation in unserem Land. Wer weiss, was in den Köpfen dieser Leute wirklich vor sich geht, was sie wirklich wollen.»
Einfache Lösungen, wie sie die AfD propagiert, führten in die Irre, sagt Dietsch. «Ich bin in der DDR aufgewachsen. Da hat man auch schon versucht, uns alle zu verdummen. Das hat nicht funktioniert – und das wird nicht funktionieren!»
AfD-Mann schafft Arbeitsgelegenheit für Migranten
Funktionieren tue viel hier, sagt Hannes Loth und bestellt sich im «Café Globig» einen Ananas-Eisbecher. Letztes ToDo in dieser Woche. Draussen weht kalter Winterwind über die Rathausstrasse. Die über 30 Windräder – 96 bis 280 Meter hoch –, die auf dem Stadtgebiet stehen, sind voll im Schwung.
Gut so, sagt Loth. «Niederreissen» solle man die «Windmühlen der Schande», hatte AfD-Chefin Alice Weidel (45) nach ihrer Wahl zur Kanzlerkandidatin gerufen. «Sie sind unsere grösste Einnahmequelle als Gemeinde. Die reissen wir nicht nieder», sagt Loth. Weniger Sonntagsreden, mehr realistischen Pragmatismus wünscht er sich bisweilen auch von seiner Partei.
Ein Beispiel: Während die Kolleginnen und Kollegen in Berlin nach dem Mordanschlag von Aschaffenburg am 23. Januar über den «kriminellen Ausländer-Mob» herziehen, hat er sechs neue Arbeitsgelegenheiten für Asylsuchende in Raguhn-Jessnitz geschaffen. «Man darf nicht von einem auf alle schliessen», sagt Loth. Zwölf Stunden müssten die Asylanten arbeiten, um sich einen Ananas-Eisbecher mit Sahne für 9,50 Euro leisten zu können: «Man zahlt denen erschreckend wenig, wenn Sie mich fragen», sagt Loth, der AfD-Bürgermeister.
Spricht aus ihm die Macht des Faktischen, die besänftigende Kraft des Amtes, oder handelt es sich dabei nur um Maskerade? Raguhn-Jessnitz ist nicht Deutschland und Loth nicht Bundeskanzler. Und doch zeigt sich in der ersten AfD-regierten Stadt eines deutlich: Zur Lösung der wirklichen Probleme bleiben Vernunft und offene Gespräche ohne Alternative.