Jetzt ist die Zahl publik: Am 1. Juni 2022 wurden in der Schweiz 61 496 Leerwohnungen gezählt, das sind 1,31 Prozent des Gesamtwohnungsbestands einschliesslich der Einfamilienhäuser. Somit ist die Leerwohnungsziffer innert Jahresfrist um 0,23 Prozentpunkte zurückgegangen. Ein solch deutlicher Rückgang der Leerstandquote innert Jahresfrist war letztmalig vor 20 Jahren zu beobachten, meldet der Bund. Die sogenannte Leerstandsziffer wird nur einmal im Jahr publiziert. In gewissen Regionen wird nun sogar von einem Wohnungsnotstand gesprochen.
Einzelne Städte haben bereits ihren Leerstand verkündet. In Zürich etwa nahm der Leerstand um 58 Prozent ab und erreicht ein Zehnjahrestief. Starke Rückgänge gabs auch in Lausanne und Genf. In den Grosszentren der Schweiz hat es demnach markant weniger leere Wohnungen.
Schweres Los für Mieter
«Wer sich auf der Suche nach einer Mietwohnung befindet, weiss: es ist mühsam», sagt Ursina Kubli (43), leitende Immobilien-Expertin bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Am stärksten spüre man die Wohnungsnot bei günstigen Wohnungen.
In der Stadt Zürich erkennt die ZKB derzeit im Preissegment unter 1300 Franken Monatsmiete eine regelrecht überbordende Nachfrage. Im Durchschnitt erreichen den Vermieter rund 100 Dossier-Anfragen pro Mietinserat – und das trotz kurzer Insertionszeit. «Inserate verschwinden häufig innerhalb eines Tages», weiss Kubli. Wer eine Wohnung sucht, muss also extrem auf Zack sein.
Plötzliche Kehrtwende
Noch vor wenigen Jahren waren Mieterinnen am längeren Hebel. Sie konnten bei einer Neuvermietung Gratismonate aushandeln oder bekamen sogar Sachgeschenke. «Damit ist Schluss», sagt Expertin Kubli.
Es gibt mehrere Gründe für diese krasse Trendwende auf dem Schweizer Wohnungsmarkt. Einerseits werden weniger neue Projekte geplant, weil die Baulandreserven knapp sind. «Das führt dazu, dass der Neubau von Wohnungen seit einigen Jahren abnimmt», sagt Donato Scognamiglio (52), Chef der Immobilienberatungsfirma Iazi.
Dass der Wohnungsbestand gemäss Daten des Bundes in den vergangenen Jahren trotzdem stets um rund 50'000 Einheiten zunahm, ist auf die Umnutzung, Verdichtung und Erweiterung von bestehenden Wohneinheiten zurückzuführen.
Einsprachen erschweren den Bau
Ein weiteres Problem: Wer Bauprojekte plant, hat oft mit Einsprachen zu kämpfen. Diese führen zu Verzögerungen oder dazu, dass Bauherren ihre Pläne fallen lassen. «Gerade Bauprojekte in städtischen Lagen erfahren zum Teil starken Gegenwind – nicht zuletzt aufgrund der rigideren Umsetzung der Lärmvorschriften», sagt Kubli. Selbst Genossenschaften, welche bezahlbaren Wohnraum schaffen würden, bleiben davon nicht verschont.
Lieferengpässe und teure Rohstoffe
Nicht nur Einsprachen erschweren den Bau. Die Branche hat auch mit Lieferverzögerungen und gestiegenen Baumaterialkosten zu kämpfen. «Das ist für die Branche organisatorisch und finanziell aktuell die grösste Herausforderung», sagt Matthias Engel, Sprecher des Schweizerischen Baumeisterverbands.
Insbesondere Stahl-, Kunststoff- und Bitumenprodukte sind teurer geworden. Die Kosten für Energie und Transport explodierten gar. Und: Wie viele andere Branchen ist auch das Bauhauptgewerbe vom Fachkräftemangel betroffen.
Haushaltsgründungen nehmen zu
Das knappe Angebot trifft auf eine stetig steigende Nachfrage. Denn die Wirtschaft hat sich seit der Pandemie erholt, und die Zuwanderung nimmt zu. Das führte im vergangenen Jahr zu mehr Haushaltsgründungen.
Allein in den ersten sechs Monaten sind per Saldo 12'000 Menschen mehr aus dem Ausland gekommen als im Vorjahr. Darin noch nicht eingerechnet sind die über 60'000 Flüchtlinge aus der Ukraine. Diese spiele bisher bei der Nachfrage eine untergeordnete Rolle, weil sie in Unterkünften von Bund und Kantonen sowie in Privathaushalten untergebracht sind. Je länger sie bleiben, desto grösser dürfte ihr Einfluss auf den Wohnungsmarkt ausfallen.
Hier entsteht neuer Wohnraum
Die hohe Nachfrage ist gleichzeitig auch ein Lichtblick. «Die Knappheit am Wohnungsmarkt setzt grundsätzlich positive Anreize, den Wohnbau anzukurbeln», sagt Kubli.
Doch in einigen Regionen stehen auch jetzt Baukräne. «Viel gebaut wird dort, wo es noch möglich ist», sagt Scognamiglio. So etwa im Raum Freiburg, im Wallis sowie in Teilen des Mittellands. Auch im Tessin und im Thurgau stellt das Immobilien-Beratungsunternehmen eine erhöhte Bautätigkeit fest.
Im Kanton Zürich sticht laut der ZKB der Bezirk Dielsdorf heraus. In diesem Bezirk gab es 2021, relativ zum Bestand, am meisten Baubewilligungen, vor allem für Mietwohnungen. Besonders viele Eigentumswohnungen, relativ zum Bestand, wurden dafür im Bezirk Horgen bewilligt.