Zwei kleine Gläser hausgemachter Eistee kosten in einem Kaffee im Zürcher Seefeld 9.90 Franken. Wer nicht mit Nötli oder Münz, sondern mit der Karte zahlen will, muss sich entscheiden. Auf dem Display des Zahlterminals erscheinen fünf Felder: «5 Prozent», «10 Prozent», «15 Prozent», «freie Trinkgeldeingabe» oder «Überspringen».
Ein Kunde ärgert sich: «Ich will nicht gefragt werden, ob ich Trinkgeld geben will. Wenn ich zufrieden mit dem Service bin, gebe ich – und sonst nicht.» Unter den prüfenden Augen des Kellners «Überspringen» zu wählen, das sei unangenehm.
Ein neues Phänomen
Bei den Trinkgeldvorschlägen handelt es sich um ein Phänomen, das aus den USA in die Schweiz schwappt. Der Bezahldienstleister Worldline ist ein Anbieter von Karten-Zahlterminals, wie sie in den Restaurants zwecks Zahlung der Konsumation häufig verwendet werden. Worldline bestätigt: «Wir bieten seit einigen Monaten auf bestimmten Terminals die Möglichkeit der Prozentauswahl.» Es stehe den Gastronomen frei, die Lösung zu deaktivieren.
Viele Gäste in der Schweiz müssen sich nun erst an diese Neuerung gewöhnen, vom Terminal zur Abgabe von Trinkgeld aufgefordert zu werden. Digitales Trinkgeld gibt es schon eine Weile: Die Gastronomiebetriebe hatten bereits vorher die Möglichkeit, via Terminal einen beliebigen Trinkgeldbetrag eingeben zu lassen. Also sind die Gäste schon länger in der Lage, digital den Service zu honorieren.
Kein Rückgang beim Trinkgeld
Während der Pandemie nahm die Zahl der bargeldlosen Zahlungen stark zu. Die Vermutung liegt nahe, dass Gäste beim Bezahlen mit Debit- oder Kreditkarten weniger Trinkgeld geben als beim Zahlen mit Bargeld. Erstaunlich: Das ist gemäss der Jahresumfrage 2022 des Branchenverbandes Gastrosuisse nicht so!
Mehrheitlich spüren die Betriebe keine Veränderung im Trinkgeldverhalten (41 Prozent) oder sogar einen Anstieg der Trinkgelder (17,8 Prozent) pro Gast im Vergleich zu den Vorjahren. Lediglich ein Fünftel (22,5 Prozent) der Gastwirte stellt einen Rückgang des Trinkgeldes fest.
Verärgert die Aufforderung zum Trinkgeld bezahlen die Gäste? Offenbar nicht. Die neuen Trinkgeldfunktionen auf den Kartenlesegeräten, die mittlerweile viele Bars, Cafés oder Restaurants verwenden, stossen nicht ab, sondern animieren dazu, tiefer in die Tasche zu greifen.
Das zeigt ein Augenschein beim bekannte Sternen-Grill am Zürcher Bellevue. Der Inhaber Thomas Rosenberger (57) hat vor einem Jahr in seinen Betrieben die Trinkgeldfunktion eingeführt. Kunden, die mit der Karte zahlen, müssen auf dem Terminal eingeben, ob sie Trinkgeld geben möchten – oder lieber nicht. Die Idee kam nicht von Rosenberger selber, sondern vom Lieferanten des Terminals. Der Wirt war gerne bereit, diese Funktion auszuprobieren.
Für Gastro-Mitarbeitende ein Segen
Rosenberger sagt: «Die grösste Taste ist diejenige mit «Kein Trinkgeld» – es steht den Gästen absolut frei, kein Trinkgeld zu geben.» Das war nicht unumstritten, anfangs habe es einzelne Diskussionen mit den Gästen gegeben. Mittlerweile habe sich der neue Bezahlprozess aber gut eingespielt. Auch sähen die Mitarbeitenden nicht, welche Taste die Gäste wählen.
Beim Sternen-Grill zahlen mittlerweile an die 80 Prozent der Gäste ihre Bratwurst mit der Karte. Das hatte zur Folge, dass das Trinkgeld vor Einführung der neuen Funktion immer stärker zurückging.
Rosenberger: «Für die Mitarbeitenden ist die Funktion ein Segen!» Das Trinkgeld sei seit der Einführung stark angestiegen. Der Gastro-Unternehmer ergänzt: «Ich verdiene nichts an diesen Trinkgeldern, finde es aber als Zeichen der Wertschätzung wichtig für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.»
Sie macht es ohne Trinkgeldfunktion
Irene Bolliger (46), Pächterin des Ausflugsrestaurants Lägern-Hochwacht in Regensberg ZH, schätzt, dass bei ihr etwa zwei Drittel aller Zahlungen per Karte erfolgen. Auf das Trinkgeld habe dies aber keinen Einfluss. Es sei immer noch etwa gleich hoch wie früher, als vermehrt bar bezahlt wurde. Und dies, obwohl sie keine spezielle Trinkgeldfunktion beim Bezahlterminal anbiete. Die Wirtin sagt: «Oft zahlen die Gäste mit der Karte und geben das Trinkgeld in bar.»
Bald sind es 50 Jahre, dass der Service im Preis in den Restaurants inbegriffen ist. Eine Tradition, die auch mit den neuen Zahlterminals nicht enden wird. Gastrosuisse schreibt auf Anfrage von Blick denn auch: «Wichtig ist, dass es der Kunde ist, der entscheidet, ob er ein Trinkgeld geben möchte, und wenn ja, wie viel und an wen, um seine Wertschätzung auszudrücken.»