«Wir müssen die Reformen vorantreiben»
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CSS-Chefin zum Prämienanstieg:«Wir müssen die Reformen vorantreiben»

CSS-Chefin Philomena Colatrella zum Prämiensprung in der Grundversicherung
«Sicher löst der Prämienschock einen grossen Wechselschub aus»

Erneuter Prämienschock! Philomena Colatrella, die Chefin der CSS, benennt im Gespräch mit Blick die Gründe, wo die Reformen stocken und was es nun zu tun gilt.
Publiziert: 26.09.2023 um 19:55 Uhr
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Aktualisiert: 27.09.2023 um 09:19 Uhr
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Bei der CSS steigen die Prämien 2024 um 8,4 Prozent, im Schweizer Durchschnitt gar um 8,7 Prozent.
Foto: Linda Käsbohrer
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Christian KolbeRedaktor Wirtschaft

Kaum hat Philomena Colatrella (55) im Board-Room am Hauptsitz in Luzern Platz genommen, legt die CSS-Chefin schon los. Die Juristin an der Spitze der zweitgrössten Krankenkasse möchte etwas bewegen, das Gesundheitssystem umkrempeln, damit es auch in Zukunft bezahlbar bleibt. Das wäre bitter nötig, denn der Prämienschock ist für viele Menschen in der Schweiz nur schwer zu verdauen.

Blick: Schlafen Sie im Moment schlecht?
Philomena Colatrella:
Nein, ich schlafe nicht schlecht. Aber nicht deshalb, weil mir hohe Prämien keine Sorgen bereiten. Ich leide mit der Bevölkerung.

Es fällt mir jetzt schwer, Ihnen das ganz abzunehmen!
Es tut mir weh, wenn es uns Akteuren im Gesundheitssystem nicht gelingt, die Effektivität und die Effizienz zugunsten der Versicherten zu steigern, wenn sich Familien die Prämien nicht mehr leisten können. Ich verkünde solche Prämienerhöhungen wirklich nicht gerne.

Was heisst das konkret für die 1,5 Millionen CSS-Kunden in der Grundversicherung?
Wir erhöhen die Prämien im Schnitt um 8,4 Prozent. Das ist zwar leicht unter dem Schweizer Durchschnitt, aber es ist natürlich für sehr viele Menschen viel Geld.

Wird der Prämienschock einen grossen Wechselschub auszulösen?
Ja, mit Sicherheit. Hohe Prämiensprünge bewegen mehr Menschen dazu, zu wechseln. Wichtig ist aber auch, dass sich die Kundinnen und Kunden beim Versicherer erkundigen, wie sie ihre Prämien optimieren können, um die finanzielle Last etwas erträglicher zu machen.

Die Direktorin des Spitaldachverbandes H+, Anne Geneviève Bütikofer, glaubt, durch eine Einheitskasse liessen sich die hohen Wechselkosten einsparen. Wie gross ist das Sparpotenzial?
Dem widersprechen wir vehement. Die Prämien sind ein Abbild der Gesundheitskosten. Sie steigen nicht wegen der Wechselkosten, sondern weil mehr Behandlungen gemacht werden. Deshalb ist die Einheitskasse mit Sicherheit keine Lösung gegen die Herausforderung der hohen Prämien.

Was sind die Gründe für diesen Prämienschub?
In erster Linie die Kosten für medizinische Leistungen, die seit der Pandemie wieder sehr stark ansteigen, aber auch wegen der Performance an den Finanzmärkten. Die Reserven der Krankenkassen sind im letzten Jahr von 12 auf 8 Milliarden Franken geschmolzen.

Wieso sind die Kosten so stark angestiegen?
Viele Operationen wurden während Corona aufgeschoben und wurden nun nachgeholt. Das senkte zunächst die Kosten, nun steigen sie umso mehr. Dazu kommen mehr Arztbesuche und Vorsorgeuntersuchungen. Unsere Gesundheitsstudie hat gezeigt: Der Schweizer Bevölkerung geht es gesundheitlich schlechter. Bei den Medikamenten steigen die Kosten beispielsweise stark an.

Persönlich: Philomena Colatrella

Philomena Colatrella (55) – der Vorname steht für «Freundin des Mutes» – ist bekannt dafür, wenn es im Gesundheitswesen um Reformen geht, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die Frühaufsteherin, begnadete Netzwerkerin und schweizerisch-italienische Doppelbürgerin steht seit 2016 an der Spitze der CSS, dem grössten Grundversicherer und zweitgrössten Krankenversicherer der Schweiz. Colatrella ist verheiratet. Ihr jüngerer Bruder Genesio ist Trainer der U21-Mannschaft des FC Zürich.

Philomena Colatrella (55) – der Vorname steht für «Freundin des Mutes» – ist bekannt dafür, wenn es im Gesundheitswesen um Reformen geht, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die Frühaufsteherin, begnadete Netzwerkerin und schweizerisch-italienische Doppelbürgerin steht seit 2016 an der Spitze der CSS, dem grössten Grundversicherer und zweitgrössten Krankenversicherer der Schweiz. Colatrella ist verheiratet. Ihr jüngerer Bruder Genesio ist Trainer der U21-Mannschaft des FC Zürich.

Sie leiden, die Prämienzahler leiden noch viel mehr. Warum tun Sie als zweitgrösste Krankenkasse nicht mehr gegen dieses Leiden?
Wir Krankenversicherer machen unsere Hausaufgaben: Wir kontrollieren die Rechnungen und halten die Aufwände für den eigenen Betrieb tief. Den grössten Einfluss auf die Kosten hätten politische Reformen. Das Problem ist, dass die wirklich wirksamen noch nicht über der Ziellinie sind. Es ist sehr bedauerlich, wenn wir für das Gesamtsystem keine Verbesserungen erreichen. Es braucht mehr Mut und die Fähigkeit, Kompromisse zu finden.

Wo braucht es Mut?
Bei allen Akteuren des Systems. Es bringt nichts, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Ich wünschte mir dennoch mehr Mut beim BAG, dem Bundesamt für Gesundheitswesen. Es braucht eine dicke Haut, um sich gegen die verschiedenen Lobbys durchzusetzen. Am Ende entscheidet das Parlament, aber es braucht eben auch mutige Vorschläge.

Wieso fehlt der Mut?
Letztlich ist es der menschliche Faktor und die Sicht auf die Partikularinteressen. Man muss unbeirrt am Thema dranbleiben, den Aufwand nicht scheuen. Ich arbeite hart und habe Lust, etwas zu verändern. Ich bin aber auch nicht in der Politik und es ist für mich einfacher, meine Mitarbeitenden zu Veränderungen zu bewegen.

Braucht es auch bei den Krankenkassen mehr Mut? Immerhin sind sie die Überbringerinnen der schlechten Botschaft.
Bundesrat Alain Berset hat in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass nicht die Krankenkassen die Kosten verursachen.

Gut, aber den Brief mit der Prämienerhöhung bekomme ich von der Krankenkasse und nicht vom Bundesrat.
Das ist richtig. Wir sind die Überbringerin der Konsequenzen eines systemischen Problems: Die Kosten pro Kopf steigen. Das hat wenig mit der Demografie zu tun.

Wieso spielt die Überalterung keine Rolle?
Es war schon immer so, dass die letzten Lebensjahre die teuersten waren aus Sicht des Gesundheitswesens. Wenn wir älter werden, verschiebt sich das einfach nach hinten. Demografie ist nicht der ausschlaggebende Faktor. Es ist der medizinische Fortschritt und die medizinischen Leistungen pro versicherte Person …

… das heisst, wir gehen zu viel zum Arzt?
Es werden mehr Leistungen erbracht. Das Bevölkerungswachstum ist übrigens auch nicht das Thema. Denn die Zuwanderer bezahlen ja auch Prämien.

Immer wieder hört man von Patienten, dass Krankenkassen auch unnötige oder unwirtschaftliche Leistungen bezahlen. Wieso schaut man da nicht genauer hin?
Für Leistungen in der Grundversicherung müssen wir aufkommen. Die Krankenversicherer können Leistungen nicht einfach streichen, aber die Behörden müssen sie regelmässig überprüfen. Die Instrumente dafür gibt es, die Umsetzung gelingt aber nicht. Es geht nicht um Straffung, Reduktion oder Rationalisierung, sondern darum, bei den Leistungen genau hinzuschauen. Wir brauchen ein optimales Gesundheitssystem, kein maximales.

Wer sträubt sich? Die Leistungserbringer, also Ärzte und Spitäler?
Die Spitaldichte ist immer noch so hoch wie bei unserem ersten Interview vor sieben Jahren. Schon damals habe ich gesagt, die Hälfte der Spitäler würde reichen. Doch die Zahl der Spitäler ist immer noch ungefähr gleich gross.

Die Leute leiden immer mehr unter der Prämienlast. Wie lässt sich das stoppen?
In erster Linie mit politischen Reformen. Darüber hinaus muss es den Krankenkassen ermöglicht werden, ihre Prämienzahler besser zu begleiten und aufzuklären. Zum Beispiel auf die Verwendung von Generika hinzuweisen. Nur dürfen wir das nicht.

Wieso?
Weil wir keine gesetzliche Grundlage mehr haben. 2011 haben wir erstmals ein Generikum-Mailing versandt. Wir haben Versicherte, die ein Originalpräparat gewählt haben, angeschrieben und sie darauf aufmerksam gemacht, dass es ein Generikum gibt. Pro Jahr beliefen sich die Einsparungen auf mehrere Millionen Franken. Heute dürfen wir dies nicht mehr machen.

Wer sagt das?
Aus Datenschutzgründen dürfen wir bei solchen Themen niemanden mehr anschreiben.

Reformen im Gesundheitswesen brauchen unglaublich lang, warum?
Ja, es braucht tatsächlich einen langen Schnauf. In den nächsten Jahren könnte sich einiges bewegen. Gerade im Bereich von Efas, der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen. Diese Reform ist gut unterwegs, das sah zeitweise anders aus. Auch der neue Arzttarif Tardoc ist bereit. Das elektronische Patientendossier EPD ist in der Vernehmlassung, die doppelte Freiwilligkeit wurde aufgehoben. Wer kein EPD möchte, muss explizit darauf verzichten. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen und griffigere Instrumente zur Beurteilung von neuen Leistungen sind ebenso wichtig.


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