Tabubruch der Spitalverband-Direktorin
«Die Einheitskasse ist eine Überlegung wert»

Die Gesundheitskosten wachsen stark, trotzdem schreiben Spitäler rote Zahlen. H+-Direktorin Anne-Geneviève Bütikofer fordert im Interview ein Ende der Pflästerlipolitik – und zeigt Sympathie für die Forderung nach einer Einheitskasse.
Publiziert: 24.09.2023 um 00:46 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2023 um 09:34 Uhr
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Anne-Geneviève Bütikofer ist alarmiert: «Wenn wir jetzt nicht handeln, kollabiert das Gesundheitssystem.»
Foto: Siggi Bucher
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Lino SchaerenRedaktor

Die stark steigenden Gesundheitskosten sind in aller Munde. Der erneut bevorstehende Prämienschock macht der Schweizer Bevölkerung zu schaffen und erhöht den politischen Druck, die Kosten zu dämpfen. Keine Freude an dieser Diskussion hat Anne-Geneviève Bütikofer. SonntagsBlick trifft die Direktorin des Schweizer Spitalverbands H+ im Spitalzentrum in Biel BE zum Interview. Bütikofer fordert nichts weniger als eine Revolution im Schweizer Gesundheitswesen.

Frau Bütikofer, am kommenden Dienstag wird Gesundheitsminister Alain Berset ein weiteres Mal massiv höhere Krankenkassenprämien präsentieren. Grund sind die unerwartet stark steigenden Gesundheitskosten. Was läuft schief bei den Schweizer Spitälern?
Anne-Geneviève Bütikofer: Nicht bei den Spitälern läuft etwas schief, sondern beim Verständnis der Finanzierung des Gesundheitssystems. Die heutige Finanzierung deckt die effektiven Kosten der Spitäler bei Weitem nicht mehr. Viele Spitäler schreiben deshalb rote Zahlen, sie stehen finanziell enorm unter Druck.

Schuld an der Misere sind also alle anderen – nur nicht die Spitäler?
Es hilft nicht, die Schuld bei dem einen oder anderen Akteur im Gesundheitswesen zu suchen. Das System als solches muss verändert werden.

Wie stellen Sie sich das vor?
Heute hat der Gesetzgeber nur die Kosten im Auge. Sie sollen möglichst nicht weiter steigen – obschon politische Entscheide ständig neue Kosten verursachen. Die Kostendämpfungsdiskussion ist reine Pflästerlipolitik. Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir über die Finanzierung der Gesundheitsversorgung reden.

Was fordern Sie konkret?
Wir fordern eine Erhöhung aller Tarife um fünf Prozent. Die Teuerung muss endlich berücksichtigt werden. Der Detailhandel oder die Stromkonzerne können ihre Tarife bei steigenden Kosten anpassen, die Spitäler nicht. Die Tarife werden ausgehandelt und von den Kantonen genehmigt. Behörden und Versicherer sind aber nicht bereit, sie zu erhöhen.

Weil dadurch automatisch die Prämien für die Bevölkerung noch stärker steigen würden als ohnehin schon.
Stimmt. Aber Achtung: Ich fordere keine höheren Prämien. Ich stelle die Frage, ob wir im System die richtigen Dinge mit den richtigen Geldquellen finanzieren. Heute werden alle Spitalleistungen über die obligatorische Krankenversicherung finanziert. Egal, was das Parlament beschliesst, es gibt keine neuen Quellen. Ein Beispiel: Die Einführung des elektronischen Patientendossiers hat die Spitäler Millionen gekostet. Zusätzlich vergütet wurde das nicht. Die Politik verursacht heute viel mehr Kosten, als dass sie das System optimiert. Auch deshalb sind die Spitäler massiv unterfinanziert. Wenn wir jetzt nicht handeln, kollabiert das Gesundheitssystem.

Es braucht also eine Revolution?
Unbedingt! Das heutige System ist nicht nur für die Leistungserbringenden nicht mehr tragbar, sondern auch für die Prämienzahlenden. Der Leidensdruck ist so gross, dass eine Revolution unausweichlich scheint.

Was schlagen Sie vor?
Wir müssen uns zum Beispiel fragen, ob das heutige Krankenkassenmodell noch das richtige ist. Ist ein System mit 50 Versicherern noch tragbar? Hat dieser Wettbewerb sein Versprechen gehalten? Die Krankenkasse muss die Leistung für den Patienten bezahlen. Mehr nicht. Wenn 2,5 Millionen Menschen pro Jahr die Kasse wechseln, bei Kosten von 800 bis 1000 Franken pro Wechsel, dann haben wir unser Sparpotenzial in Milliardenhöhe bereits gefunden. Die Überlegungen rund um die Einheitskasse sind deshalb legitim.

Die SP fordert die Einführung einer staatlichen Krankenkasse, Umfragen haben kürzlich gezeigt, dass die Einheitskasse wegen des Prämienschocks auch in der Bevölkerung Anklang findet. Sie stimmen also in diesen Ruf ein?
Ich sage nicht, dass die Einheitskasse der richtige Weg ist. Aber sie ist eine Überlegung wert. Wenn wir eine Revolution im System fordern, müssen wir alles in Betracht ziehen. Wir begegnen allen neuen Ideen mit Interesse.

Die Versicherer sehen keine Notwendigkeit für eine Revolution, sondern verweisen auf die Kosten, die gesenkt werden müssten. Noch immer werden viele Patienten für Eingriffe ins Spitalbett gelegt, die längst ambulant durchgeführt werden könnten. Aber die stationäre Behandlung bringt den Spitälern mehr Umsatz.
Stimmt. Aber auch hier liegt der Fehlanreiz im System: Der ambulante Bereich ist bereits heute um 30 Prozent unterfinanziert! Trotzdem findet in den Schweizer Spitälern bereits eine beachtliche Ambulantisierung statt.

Im umliegenden Ausland ist dieser Wandel deutlich weiter fortgeschritten.
Ja, aber warum? Weil bei uns die Finanzierung fehlt. Je mehr die Spitäler ambulant tätig werden, desto grösser wird das finanzielle Loch. Das ist ein Riesenproblem. Im Zweifelsfall werden die Spitäler finanziell bestraft, wenn sie die medizinisch sinnvollste Behandlung wählen. Wir verbrennen Geld, weil wir die ambulante Behandlung querfinanzieren müssen. Trotzdem ist es wichtig, diesen Bereich auszubauen. Ambulant können Leistungen mit weniger Personal und Infrastruktur erbracht werden – das ist auch mit Blick auf den Fachkräftemangel zentral. Politisch ist das gewollt. Was fehlt, sind finanzielle Anreize.

Die im internationalen Vergleich sehr hohe Spitaldichte hat in der Schweiz grossen Einfluss auf die Gesundheitskosten …
… aber wer bestimmt die Spitaldichte?

Die Kantone.
Und diese müssen sich an den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung orientieren. Die hohe Spitaldichte ist ein gesellschaftlicher Wunsch. Ich wohne in Neuenburg. Hier ist die Absicht, das Kantonsspital auf einen Standort zu reduzieren, mehrmals am Stimmvolk gescheitert. Wir schreiben deshalb Verluste – aber die Bevölkerung will das nicht ändern. Entscheidend ist letztlich immer, welche Abstriche die Gesellschaft zu machen bereit ist.

Wir führen dieses Gespräch im Spitalzentrum Biel. Hier gibt es fünf Spitäler für ein Einzugsgebiet von 180'000 Menschen. Das ist doch Wahnsinn!
Ökonomisch gesehen, ja. Aber diese Spitäler sind nicht leer. Im Gegenteil, es fehlt das Fachpersonal, um die Betten zu betreuen. Das Fachpersonal fehlt auch, weil das Geld für optimale Arbeitsbedingungen fehlt. Wir dürfen bei der ganzen Diskussion nicht vergessen, welche Rolle die Spitäler bei der Covid-Pandemie gespielt haben. In anderen Ländern sind Menschen gestorben, weil es zu wenig Infrastruktur gab oder Fachkräfte fehlten, um die Kranken zu behandeln. Bei uns haben wir den Spitälern und vor allem dem Personal während der Pandemie applaudiert, aber heute erinnert sich fast niemand mehr daran. Wir können die Spitäler schon zu Tode sparen. Aber will das die Bevölkerung?

Es stellt sich die Frage, ob alle Spitäler alles anbieten müssen. Statt noch mehr Geld ins System zu pumpen und ein Wettrüsten zu betreiben, sollte die überregionale Zusammenarbeit verbessert werden.
Es braucht noch mehr Zusammenarbeit, ja. Aber da passiert schon sehr viel. Die Spitäler müssen schon nur aufgrund des finanziellen Drucks zusammenarbeiten, weil sie es alleine nicht mehr schaffen. Das wird weiter zunehmen. Wir müssen an runden Tischen zusammen mit Politik und Versicherern überlegen, wie das organisiert werden soll. Welche Gesundheitsregionen soll es geben? Wer bietet was an?

In der Ostschweiz hat man genau das versucht. Die überkantonale Spitalplanung mit sechs Kantonen ist aber an Partikularinteressen gescheitert, weil es zu Spitalschliessungen gekommen wäre. Braucht es mehr Druck vom Bund?
Wir leben in einem föderalistischen Land, die Spitalplanung ist Sache der Kantone. Der Bund spielt natürlich auch eine Rolle, er muss mit am Tisch sitzen, er muss eine Vision haben, welche Gesundheitsversorgung in der Schweiz angeboten werden soll. Davon habe ich bisher nichts gehört. Ich weiss nicht, welche Spitallandschaft der Zukunft der Bundesrat will.

Vor rund drei Wochen gab es ein Spitzentreffen mit Gesundheitsminister Alain Berset. Demnach haben Sie daraus wenig Hoffnung geschöpft?
Herr Berset tritt Ende Jahr als Bundesrat ab, er wird jetzt kaum mehr die nötige Revolution lostreten. Wir sprechen einmal im Jahr beim zuständigen Bundesratsmitglied vor. Herr Berset hatte in den letzten Jahren immer ein offenes Ohr für unsere Anliegen. Mehr leider nicht.

Erwarten Sie in den nächsten Jahren ein Spitalsterben in der Schweiz?
Ja. Die ersten mussten in Bern bereits schliessen. Wenn es mittelfristig keine übergeordneten Überlegungen zur Anpassung des Systems gibt, werden weitere folgen. Die Patienten wären nicht mehr versorgt, die Qualität wäre nicht mehr sichergestellt. Wenn unsere Spitäler bankrott gehen, übernehmen ausländische Investoren. Die betriebswirtschaftlich rentablen Bereiche würden ausgebaut, der Rest geschlossen. So weit darf es nicht kommen.

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