Die Ever Given ist endlich unterwegs nach Europa! Allerdings mit über dreimonatiger Verspätung: Das 400 Meter lange Containerschiff war im März im Suez-Kanal auf Grund gelaufen. Tagelang lag das wolkenkratzergrosse Ungetüm quer im Kanal, Hunderte Schiffe waren blockiert – mit massiven Auswirkungen auf den Welthandel.
Eigentlich wäre die Ever Given bereits seit Ende März wieder fahrtüchtig. Das Schiff und seine Besatzung sassen aber bis gestern im ägyptischen Kanal fest! Der Grund: Behörden und Reederei konnten sich nicht einigen, wer für die Kosten der Blockade aufkommt. Nun also endlich das grosse Aufatmen.
Schon wieder Stau im internationalen Frachthandel
Aber: Dem Welthandel droht durch eine Blockade im chinesischen Frachthafen Yantian bereits neues Ungemach. Ein Corona-Ausbruch unter Hafenarbeitern hat den Containerverkehr im Frühling vorübergehend lahmgelegt. Mittlerweile werden zwar wieder Frachtschiffe abgefertigt – aufgrund strenger Corona-Bestimmungen allerdings auf Sparflamme. Dadurch bilden sich vor dem viertgrössten Containerhafen der Welt massive Staus.
Ein neuer Bericht des Kieler Instituts für Weltwirtschaft kommt nun zum Schluss: Fünf Prozent aller Containerschiff-Kapazitäten weltweit hängen aktuell in China fest. Auch Reto Föllmi (45), der an der Universität St. Gallen zu Aussenhandel forscht, schätzt: «Die Blockade in Yantian ist im Ausmass noch grösser als jene im Suez-Kanal.»
Und zwar besonders für die Schweiz: Yantian liegt zwar fast 10'000 Kilometer Luftlinie entfernt. Doch Föllmi betont: «Die Schweiz mag ein Binnenland sein. Die meisten hierzulande haben den Namen Yantian bis vor kurzem noch nie gehört. Aber wir sind international viel stärker in die Weltwirtschaft eingebunden als andere Länder, auch als unsere europäischen Nachbarn. Daher spüren wir die Blockade stärker.»
Es droht die grosse Enttäuschung unter dem Weihnachtsbaum
Betroffen ist etwa die Schweizer Baubranche. Durch Pandemie und Lockdowns kam es zu Produktionsunterbrüchen in chinesischen Fabriken. Diese wirken immer noch nach. Die Blockade in Yantian verschärft die Situation jetzt zusätzlich. Die Folge für Bauunternehmen: Lieferengpässe und Preissteigerungen.
Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten hingegen müssen bisher keine Angst vor leeren Regalen im Supermarkt haben, beschwichtigt Föllmi. Zumindest noch nicht. Anders sieht es mit Blick auf das Weihnachtsgeschäft aus. Bis zur Bescherung dauert es zwar noch ein halbes Jahr. Aber die Schweizer Warenhäuser kaufen ihre Produkte bereits jetzt ein, die Lieferketten sind extrem eng getaktet. Wenn die Blockade in China nicht bald behoben ist, droht die grosse Enttäuschung unter dem Weihnachtsbaum.
Ausgerechnet das «Silicon Valley Chinas» ist betroffen
Besonders bei all jenen, die sich ein Handy, Tablet oder Laptop wünschen: Die Metropole Shenzhen, wo der blockierte Frachthafen Yantian liegt, gilt nämlich als Silicon Valley Chinas.
Erik Hofmann (47), Experte für Supply Chain Management an der Universität St. Gallen, rät: «Wer es auf ein ganz spezielles Weihnachtsgeschenk abgesehen hat, sollte das jetzt schon einkaufen. Andernfalls ist nicht sichergestellt, dass das Produkt kurzfristig erhältlich ist.»
Immerhin: Logistik-Unternehmen können ihre Fracht auch auf den Luft- oder Landweg umsatteln, falls die Blockade des chinesischen Hafens noch länger andauert. Doch ein Transport per Flugzeug ist mindestens zehnmal teurer als per Schiff, erläutert Hofmann. Kommt dazu: «Ein Schiffscontainer kann nicht einfach in ein Flugzeug verladen werden. Die Waren müssen erst in einen anderen Container umgeladen werden. Das braucht Zeit – und kostet Geld.»
Gut möglich also, dass wir die chinesische Hafenblockade hierzulande bald im eigenen Portemonnaie spüren.