Was wir auf dem Arbeitsmarkt gerade erleben, ist erst der Anfang. «Das Vorspiel» nennt es Arbeitsmarktexperte Tino Senoner (63) mit einem Schmunzeln. Der Fachkräftemangel ist dermassen akut, dass die Arbeitnehmenden sich immer mehr Freiheiten herausnehmen können. Wie Blick berichtete, führt das unter anderem in der Pflege dazu, dass immer mehr Leute temporär statt festangestellt arbeiten.
«Über kurz oder lang wird das alle Branchen betreffen», prognostiziert Senoner. Es handelt sich denn auch nicht um einen kurzfristigen Effekt – sondern um eine langfristige Umwälzung des Arbeitsmarktes. Mindestens acht Jahre hält der Trend hin zu mehr Freiheit für die Arbeitnehmenden – unter anderem dank Temporärarbeit – laut Senoner noch an.
Erst dann erreicht der Fachkräftemangel seinen Höhepunkt. 2030 ist die Pensionierungswelle der Babyboomer auf dem Zenit, bis dahin tut sich die Lücke weiter auf. «Heute fehlen uns 130'000 Arbeitskräfte, im Jahr 2025 werden es schon 360'000 sein», rechnet Senoner vor.
«Es drohen Vorsorgelücken»
Für die Arbeitnehmenden ist das ein Segen: Sie sind auf dem Arbeitsmarkt heiss begehrt, können ihre eigenen Konditionen stellen. Aber: «Langfristig kann die Temporärarbeit zum Bumerang werden», warnt Véronique Polito (45), Vizepräsidentin der Gewerkschaft Unia.
Temporärangestellte profitieren in bestimmten Fällen zwar von mehr Freiheiten und oft auch von besseren Stundenlöhnen. Gerade bei den Sozialversicherungen sind sie aber schlechter gestellt, warnen die Gewerkschaften. Bei Temporäreinsätzen von weniger als drei Monaten ist man nicht automatisch in der 2. Säule versichert. «Es drohen Vorsorgelücken», so Polito.
Kommt hinzu, dass die Flexibilität durch Temporärverträge nicht nur für den Arbeitnehmer gilt – sondern auch für den Arbeitgeber. «Das Einkommen ist schlechter planbar, das führt zu mehr Stress und Unsicherheit in der Lebensplanung allgemein», sagt Polito. Im schlimmsten Fall ist der Job von heute auf morgen gleich ganz weg.
Mehr Ü50er in der Temporärarbeit
Und: Nicht alle steigen freiwillig um. Überdurchschnittlich viele Ältere arbeiten als Temporäre. Sie kriegen keine Festanstellung mehr – denn trotz Fachkräftemangel besteht die Altersguillotine weiter. Sie verschiebt sich zwar nach oben, ist aber nach wie vor omnipräsent, wie Studien zeigen.
Und selbst für Jüngere kann die Temporärarbeit mittelfristig zum Problem werden, warnt auch Arbeitsmarktexperte Tino Senoner: «Wer jahrelang temporär arbeitet, ohne sich weiterzubilden, setzt seine Arbeitsmarktfähigkeit aufs Spiel.» Die Gefahr: Man lernt nicht dazu, bleibt auf alten Technologien sitzen, die schon in wenigen Jahren überholt sind.
«Wer temporär arbeitet, muss mehr Verantwortung für die eigene Karriereplanung übernehmen», mahnt Senoner. Auch Temporäre haben dank des Gesamtarbeitsvertrags Personalverleih zwar Anspruch auf berufliche Weiterbildungen – aber erst ab 88 Einsatzstunden. Bei einer Vollzeittätigkeit entspricht das gut 2 Wochen.
Eine Lösung für den Fachkräftemangel ist die Temporärarbeit nicht – weder für Arbeitnehmer noch für Arbeitgeber. Am Ende, da sind sich die Experten einig, müssen sich die Arbeitsbedingungen in den betroffenen Branchen verbessern. Dann ist das Personal auch wieder bereit, sich langfristig an einen Betrieb zu binden.