Sie kommt so sicher wie das Amen in der Kirche: die Diskussion über die Jahresendrally an den Börsen. Im Herbst setzt sie jeweils ein und die Anlegerinnen und Experten spekulieren, ob nun der richtige Zeitpunkt ist, um kräftig zuzukaufen und im Januar schöne Gewinne mitzunehmen.
Die Jahresendrally ist mehr als ein Mythos: Tatsächlich sind die Monate November und Dezember traditionell stärker als September und Oktober, welche gemeinhin als schwächste Börsenmonate gelten. «Die Jahresendrally ist nicht mehr gleich intensiv wie früher, aber sie lässt sich statistisch immer noch beobachten», bestätigt Anja Hochberg (53), Leiterin gemischte Anlagelösungen bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB).
Ein Blick auf den SMI zeigt, dass der Index seit Anfang November tatsächlich merklich zugelegt hat. Auch beim deutschen Leitindex Dax zeigt die Tendenz seit einigen Tagen nach oben. Ebenso bei den US-Indizes Dow Jones, Nasdaq und S&P 500.
Ein Garant für weiter steigende Kurse ist das aber längst nicht: Letztes Jahr etwa blieb die Jahresendrally aus, die Anleger setzten im Herbst vielmehr zum Winterschlaf an, wie es scheint. Kommt hinzu, dass wir uns in einem Vorwahljahr befinden: 2024 wählen die USA ihren Präsidenten neu. Für gewöhnlich führt das dazu, dass die Jahresendrally im Vorjahr später einsetzt als üblich.
Konjunktursorgen und Kriege
Noch entscheidender ist die Weltwirtschaftslage. Und die zeigt sich trübe: Die Inflation liegt vielerorts weiterhin deutlich über den gesetzten Zielwerten. Die Zinsen dürften damit noch eine Weile auf hohem Niveau bleiben, was die Konjunktur bremst. Hinzu kommen die geopolitischen Unsicherheiten mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten.
Der Ölpreis sackte zuletzt auf den tiefsten Stand seit Juli ab. Und das, obwohl Saudi-Arabien und Russland bei der Ölförderung auf die Bremse treten, um die Preise zu treiben. Die künstliche Verknappung scheint nicht auszureichen, um die Sorgen vor einem Wirtschaftsabschwung zu kompensieren.
«Angesichts der schwierigen Wirtschaftslage könnte die Jahresendrally gedämpfter ausfallen als auch schon», schätzt ZKB-Expertin Hochberg. Derzeit zeige sich der Markt gespalten. «Bei den Tech-Unternehmen geht es aufwärts. Die Industrie-Unternehmen haben es schwerer.»
Kursgewinne als Weihnachtsgeschenk
Der Schweizer Aktienmarkt hat im bisherigen Jahresvergleich stärker nachgegeben als die Märkte in den USA und anderswo. Das könnte jetzt zum Trumpf werden: «Für viele könnte jetzt der Zeitpunkt kommen, Schweizer Titel wieder ins Portfolio aufzunehmen», so Hochberg. Das würde den SMI beflügeln.
Darauf pokern, dass die Jahresendrally kommt, sollten die Anleger jedenfalls nicht. «Selbst wenn die Märkte im Schnitt zum Ende des Jahres zulegen, trifft das noch nicht zwangsläufig auf alle Titel zu», warnt Hochberg. Abhängig von einzelnen Geschäftszahlen, Branchenaussichten und anderen Faktoren kann es für einzelne Unternehmen selbst dann talwärts gehen, wenn die Jahresendrally im Gesamtmarkt Tatsache wird.
Zum Start in die neue Woche bewegte sich der SMI am Montag seitwärts. Selbst wenn sich der Aufwärtstrend der letzten Woche nicht fortsetzt, ist das aber längst nicht der Abgesang auf die Jahresendrally: Dann können die Anleger immer noch auf die Weihnachtszeit hoffen. In den letzten Tagen des Jahres fällt die Rallye traditionellerweise besonders ausgeprägt aus – was ihr auch den Übernamen Santa-Claus-Rallye eingebracht hat.