Die Migros stellt ihren Laden auf den Kopf. Der Ausverkauf findet bei der Nummer eins im Schweizer Detailhandel ausserhalb des Kerngeschäfts statt. Vieles muss weg: die Reisebüros von Hotelplan, der Kosmetikhersteller Mibelle sowie die Sport- und Elektronikfachmärkte SportX und Melectronics stehen zum Verkauf. Damit will Migros-Chef Mario Irminger Geld für Investitionen in die neu gegründete Supermarkt AG freischaufeln, die operativ von Peter Diethelm geleitet wird. Das soll Preissenkungen in den Supermärkten ermöglichen. Dies ist dringend nötig: Die Kundschaft hat keine Lust mehr, die Extravaganzen einer ineffizienten Migros-Organisation zu bezahlen, wie die Marktanteilverluste des orangen M zeigen. Günstige Angebote rücken im eingetrübten Wirtschaftsumfeld noch stärker in den Vordergrund. Die Migros gerät mit ihren Supermärkten beim Kampf um die preisbewusste Kundschaft immer mehr ins Hintertreffen.
Wenigstens was das Marketing angeht, hatte die Migros bei den Preisen zu Jahresbeginn die Nase vorn. Plakate im Grün-Weiss der Billiglinie M-Budget dominierten das Strassenbild. Werbung für günstige Pizza, Bananen und Zahnpasta sollte die Leute im Januarloch in die Läden locken. Doch der orange Riese sieht mit seiner Billiglinie im Konkurrenzvergleich zunehmend alt aus. Coop-Unternehmensleiter Philipp Wyss attackiert bezüglich Billigangeboten die Konkurrenz nicht nur im Januar. «Wir haben Prix Garantie vom grauen Entchen zum Star gemacht», sagt Wyss gegenüber der «Bilanz».
Blutleeres M-Budget
Coop hat damit aufgehört, die Prix-Garantie-Linie in den Läden zu verstecken in der Hoffnung, dass die Kundschaft im Laden zu den besser platzierten teureren Artikeln greift. Seit kurzem sind die Prix-Garantie-Preisschilder in den Supermärkten in auffälligem Pink umrahmt. Sie stehen zwar weiterhin oft unten im Regal, doch beim Einkauf sind sie nun auf einen Blick erkennbar. Im vergangenen Jahr legte die Linie beim Umsatz um rund 16 Prozent auf rund 600 Millionen Franken zu – das gesamte Supermarktgeschäft wuchs um 2,4 Prozent. «Wir wollen mit Prix Garantie auf mittlere Sicht einen Umsatz von einer Milliarde Franken erreichen», sagt Wyss.
Coop misst der Billiglinie einen hohen Stellenwert bei und hat sie stark ausgebaut. «Preiseinsteigerprodukte sind enorm wichtig», erklärt Wyss. Stolz verwies er an der jüngst abgehaltenen Bilanzmedienkonferenz auf das Sortiment von 1500 Prix-Garantie-Produkten – vor fünf Jahren waren es noch etwa halb so viele. Damit ist Coop in der Sortimentsgrösse längst an Migros vorbeigezogen, die auf rund 700 M-Budget-Produkte kommt. Dabei hatte der orange Riese die Einsteigerprodukte einst lange vor Coop lanciert und zum Kultstatus erhoben. Doch zuletzt zeigten die Manager des Grossverteilers wenig Herzblut für die Marke. Wie es aus Migros-Kreisen heisst, waren wegen der niedrigen Gewinnmargen nicht alle Regionen davon begeistert. Genauere Angaben zur Entwicklung der Anzahl geführter Billigprodukte über die Jahre hält die Migros im Gegensatz zu Coop unter Verschluss. Zwischendurch reduzierte die Migros das M-Budget-Sortiment sogar, wie die Auswertung einzelner Jahre zeigt. Nun will man es wieder ausbauen.
Das sollte besser schnell passieren. Die Stimmung der Kundschaft in der Schweiz ist gedrückt. Vieles wird teurer. Deshalb müssen die variablen Kosten im Haushalt runter. Das spüren die Detailhändler im Kaufverhalten, sagt Gianluca Scheidegger, Konsumforscher am Gottlieb Duttweiler Institut. «Konsumentinnen und Konsumenten sind verunsichert. Die Kosten für Miete und Krankenkasse steigen. Bei Lebensmitteln können sie Kosten verhältnismässig schnell und einfach reduzieren.» Das beeinflusst die Kundenströme. «Die Discounter profitieren vom zurzeit unsicheren wirtschaftlichen Umfeld», so Scheidegger. Auch Myriam Meier, Detailhandelsexpertin des Marktforschungsunternehmens GfK, sagt: «Die derzeitige Wirtschaftslage rückt den Preis noch stärker ins Zentrum. Das ist ein Steilpass für Discounter.»
Lidl gibt den Takt vor
Dabei ist die Konkurrenz durch Aldi und Lidl für die Schweizer Anbieter schon zuvor härter geworden. Und auch Denner nimmt der Mutter Migros seit Jahren Marktanteile ab. Wenn man sich unter den Managern der Branche umhört, gab im hiesigen Detailhandel zuletzt vor allem ein Player den Takt vor: Lidl Schweiz. Zwar ist Aldi Suisse unter der Leitung von Jérôme Meyer in der Schweiz mit rund 240 Filialen grösser als Lidl mit ihren bald 180 Supermärkten. Doch Lidl expandiert mit acht bis zehn neuen Standorten pro Jahr schnell, während Aldi beim Ausbau den Fuss vom Gas genommen hat.
Lidl orientiert sich in der Schweiz allerdings nicht am deutschen Konkurrenten, sondern greift die Schweizer Platzhirsche an. Besonders die Migros hat das in den letzten Jahren zu spüren bekommen. «Lidl hat sich den Schweizer Bedürfnissen geschickt angepasst und ist für uns der härteste Konkurrent», sagt ein Manager eines Grossverteilers. Coop-Chef Philipp Wyss sagt offen, dass er den Discounter als Vergleichsgrösse im Kampf um die preisbewusste Kundschaft heranzieht. «Wir vergleichen den Preis unserer Prix-Garantie-Produkte jede Woche mit dem Sortiment von Lidl.» Eine andere Stimme aus der Branche sagt: «Die haben sich stark entwickelt und schnell dazugelernt.»
Dabei hatte Lidl kurz vor dem 2009 erfolgten Schweizer Markteintritt einen Imagekollaps erlebt. Deutsche Medien deckten damals auf, dass Lidl die Mitarbeitenden im Heimmarkt mit versteckten Kameras systematisch bespitzelt hatte. «Stasi-Methoden beim Discounter», titelte «Der Spiegel». Das trübte den Start von Lidl in der Schweiz.
Über die Jahre erarbeitete sich Lidl ein besseres Image. Torsten Friedrich heisst der Mann, der beim Discounter mit dem gelb-blauen Logo in der Schweiz die letzten drei Jahre das Sagen hatte und der Migros Kunden abspenstig machte. Günstige Produkte sind nur ein wichtiger Erfolgsfaktor. In den einschlägigen Preisvergleichen liegen Lidl und Aldi jeweils nah beieinander, meist weit vor den Schweizer Detailhändlern. Günstig allein reicht aber nicht, um Konsumentinnen und Konsumenten in die Schweizer Discountläden zu locken. Friedrich hat die Lidl-Standorte aufgehübscht: Der Wein liegt in Holzkisten statt in Kartons, frisches Obst und Gemüse haben mehr Platz bekommen, und die Kosmetikprodukte sind extra beleuchtet, um sie hochwertiger erscheinen zu lassen. Der Look der Filialen rückt damit immer näher an das Erscheinungsbild der Supermärkte der Grossverteiler heran. Auch das Bio-Sortiment wächst ständig, und die Self-Check-out-Kassen verkürzen die Wartezeiten.
Zudem setzt Lidl stärker auf Schweizer Produkte und berücksichtigt dabei auch kleinere Anbieter: von der Münstertaler Hauswurst bis zum St. Galler Stärnächäs. Swissness zieht Lidl auch beim Sponsoring durch. Der Discounter unterstützt verschiedene kantonale Schwingfeste und sponsert Events wie die Thurgauer Apfelkönigin: Sie wird in einer Art Ostschweizer Miss-Wahl an der Thurgauer Herbstmesse WEGA erkoren. Einen regionalen Bezug demonstriert der deutsche Discounter mitunter auch in seinen Filialen. So lächelt in der Berner Filiale unweit des Bahnhofs ein Bär mit Lidl-Kappe von den Wänden.
Schamlos im Discounter
Billige Preise, aber kein billiges Image sollen solche Massnahmen bringen. Und das gelingt. In den vergangenen Jahren habe sich das Einkaufen im Discounter vom sozialen Stigma befreit, sagt Konsumforscher Gianluca Scheidegger. «Früher haben sich viele Menschen noch dafür geschämt, bei Aldi, Lidl und Co. einzukaufen. Heute ist dies kaum mehr der Fall. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten kaufen bei Discountern ein.» Und neue Kunden, die gute Erfahrungen machen, kommen sehr wahrscheinlich wieder. So ist der Anteil der Schweizer Haushalte, die bei Lidl einkaufen, von 37 Prozent im Jahr 2012 auf 59 Prozent 2022 gestiegen. Damit hat der Discounter weiterhin Luft nach oben.
Die Wachstumsraten für die Schweiz gibt das Unternehmen nicht bekannt. Der Umsatz dürfte im vergangenen Jahr im oberen einstelligen Prozentbereich gewachsen sein und damit gegen 2,5 Milliarden Franken erreicht haben. Das bedeutet einen weiteren Gewinn von Marktanteilen. Dabei suchen Lidl und auch Aldi neue Standorte in den Zentren. Statt auf der grünen Wiese in der Agglomeration eröffnen die deutschen Discounter ihre Filialen an Toplagen. Das zeigt sich im Berner Stadtzentrum. An der Spitalgasse liegen die Läden von Aldi und Lidl nur eine Gehminute voneinander entfernt. Eine Kampfansage an die grossen Konkurrenten Migros und Coop – und an Denner. Der Schweizer Discounter ist mit seinen über 800 Filialen in den Zentren bereits gut vertreten.
Mario Irminger hatte Denner zwölf Jahre lang geleitet, bevor er im Mai letzten Jahres den Job als Migros-Chef überahm. In seiner Zeit als Denner-CEO baute Irminger das Filialnetz stark aus und nahm frisches Obst und Gemüse ins Sortiment auf. 2023 erzielte die Migros-Tochter einen Umsatz von 3,9 Milliarden Franken, was einem Plus von vier Prozent entspricht.
Schönere Supermärkte
Als Präsident der Generaldirektion des Migros-Genossenschafts-Bunds (MGB), wie Irmingers Amtsbezeichnung im Migros-Jargon korrekt heisst, untersteht ihm das Departement Handel und damit Denner. Und mit der Suche nach einer Nachfolge für sich selbst gelang Irminger bei Denner ein Coup: Torsten Friedrich verlässt Lidl und wird Denner-Chef. Kleiner Wermutstropfen: Durch seine lange Kündigungsfrist mit Wettbewerbsverbot verzögert sich sein Start. Er fängt erst im Januar 2025 an, bis dann springt Finanzchef Adrian Bodmer ein. Mit der freudigen Nachricht wollte Denner nicht zuwarten und kommunizierte ein Jahr vor Stabübergabe – wohl auch, weil man das im Migros-Konzern häufig vorkommende Durchsickern von Interna verhindern wollte.
Torsten Friedrich ist ein Lidl-Kind. 21 Jahre arbeitete der 46-Jährige beim zur Schwarz-Gruppe gehörenden Discounter. Dort begann er seine Karriere als Verkaufsleiter. Wie aus dem Umfeld des Unternehmens verlautet, hätte er befördert werden sollen und in der Konzernzentrale in Neckarsulm länderübergreifende Aufgaben übernehmen können. Doch er und seine Familie wollten laut einem Insider in der Schweiz bleiben. Das tönte er nach Bekanntgabe seines Lidl-Abgangs auch in einem emotionalen Post auf Linkedin an. Die Schweiz sei für die Familie zur neuen Heimat geworden. «Und wir freuen uns nun auf unsere gemeinsame Zeit hier», schreibt der gebürtige Leipziger, der mit seiner Frau zwei Töchter hat.
Bei Denner wird der Discount-Profi auf viel Neues stossen: ein heterogenes Filialnetz mit unterschiedlich grossen Filialen, einen im Vergleich mit Lidl viel höheren Anteil an Markenartikeln und die im Verhältnis wichtigeren Umsatzbringer Alkohol und Tabak. Friedrich wird einen aufgeräumten Denner antreffen: Irminger hatte ein neues Ladenkonzept konzipiert, das derzeit ausgerollt wird. Ein grösseres Abteil mit Früchten und Gemüse, mehr frisches Brot und ein klarer geordnetes Sortiment mit elektronischer Preisbeschriftung. «Die Atmosphäre im Laden wird wärmer», sagte Irminger als Denner-Chef in einem Interview mit der «Schweiz am Wochenende».
In vielen Migros-Supermärkten herrscht dagegen eine eher kühle Atmosphäre. Mehrere Migros-Insider sprechen von einem eigentlichen Investitionsstau, der sich im Unterhalt der Läden bei einigen der zehn Genossenschaften über Jahre gebildet habe. So sehen etwa im Tessin die Migros-Filialen im Vergleich zu den Standorten der Discounter häufig alt aus, die Preise sind aber höher. Da erstaunt es nicht, dass sich die Kunden abwenden. Die Erneuerung des Filialnetzes hat für die Migros-Spitze hohe Priorität und ist kostenintensiv. Statt weiterhin Geld in das unrentable Geschäft der Fachmärkte von Melectronics und SportX zu stecken, wollen Mario Irminger und Peter Diethelm das Kerngeschäft auf Vordermann bringen. Andere haben das längst in Angriff genommen. Coop rollt gerade ein aufgefrischtes Ladenkonzept für die Supermärkte aus und investiert dafür rund 300 Millionen Franken. Die Umstellung braucht Zeit. Erst Ende 2026 soll mehr als die Hälfte der Läden in neuem Glanz erstrahlen. In den neuen Megastores gehören zum Frischekonzept nicht nur Obst und Gemüse. Das Personal produziert auch vieles von der Erdbeertorte über die Pizza bis zur Hauswurst im Supermarkt vor den Augen der Kundschaft.
Bei der Migros gibt es nicht nur beim Erscheinungsbild viel zu tun. So muss die Migros ihr Filialnetz ausbauen, um den sich wandelnden Kundenbedürfnissen gerecht zu werden. Im Vergleich zu Coop hat Migros viel weniger Läden und kann damit dem Trend, in der Nähe des Arbeits- oder Wohnorts einzukaufen, nicht ausreichend gerecht werden.
Neue Konkurrenten
Das Rennen um die besten Standorte ist damit in vollem Gang. Bei Lidl Schweiz wird es in Zukunft Alessandro Wolf führen. Der 38-jährige Schweizer übernimmt im Sommer die Leitung, nachdem er zuletzt CEO von Lidl Österreich war. Viele aus der Schweizer Crew kennen Wolf. Er hatte seine Karriere gleich nach dem Studium bei Lidl in Deutschland begonnen und 2008 zur Vorbereitung des Markteintritts zurück in die Heimat gewechselt. Dort stieg er 2016 bis zum Chief Operating Officer auf. Er wird mit seiner Rückkehr neue Akzente setzen wollen. Was bei Lidl bisher fehlt, ist ein Konzept für kleine Läden an stark frequentierten Standorten. Aldi Suisse experimentiert schon damit und betreibt in Zürich am Bahnhof Stadelhofen eine Kleinstfiliale auf 250 Quadratmetern. Weitere Bahnhofsläden in anderen Städten sollen folgen, sagte Aldi jüngst gegenüber der «NZZ am Sonntag». Damit will der Discounter in ein Geschäft vordringen, das sich bei Lebensmitteln bisher Coop, Migros und der Kioskbetreiber Valora aufteilen. Läden an Bahnhöfen sind auch deshalb so attraktiv, weil der Sonntagsverkauf viel Geld in die Kassen spült.
Derweil taucht neue Konkurrenz am Horizont auf. Der niederländische Discounter Action trifft Vorbereitungen für den Markteintritt in der Schweiz. In Deutschland und anderen Märkten sorgt das Unternehmen für viel Wirbel. Action setzt die etablierten Discounter Aldi und Lidl stark unter Druck. Die Niederländer hätten den Rivalen Lidl europaweit beim Umsatz im Nonfood-Segment bereits überholt, berichtet die «Lebensmittel Zeitung». Von Bürobedarf über Werkzeug bis hin zu Drogerieartikeln, Sportutensilien und Süssigkeiten reicht das Sortiment – vieles kostet weniger als einen Euro. Action betreibt über 2300 Filialen in elf europäischen Ländern. Damit steht den Schweizer Detailhändlern womöglich bald eine schwergewichtige Billigkonkurrenz gegenüber.
Der französische Nonfood-Discounter Stokomani hat bereits eine Filiale im Wallis eröffnet – die erste ausserhalb des Heimmarktes. Auf einer Fläche von 1000 Quadratmetern bietet Stokomani ein breites Sortiment an Mode, Kosmetik, Haushaltswaren, Handwerksbedarf und vielem mehr, einschliesslich zahlreicher Markenprodukte. Über ihre weiteren Expansionspläne in der Schweiz halten sich die Verantwortlichen bedeckt. Doch eines ist gewiss: Billiganbieter haben Hochkonjunktur, und das Timing für einen Markteinstieg ist perfekt. Anbieter ohne klare Strategie oder mit ineffizienten Prozessen geraten noch stärker unter Druck. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich der Umbau der Migros auch zu einem Wettlauf gegen die Zeit.