Die meisten Schweizerinnen und Schweizer würden aktuell nicht einmal für viel Geld in die Ukraine reisen. Peter Wermuth (73) tut es freiwillig. Am Donnerstagvormittag fährt er mit dem Auto nach Charkiw – eine Grossstadt in unmittelbarer Nähe zu Russland. Wermuth hat einen Plan: «Sollte sich die Lage zuspitzen, will ich meine Familie in die Schweiz retten.»
Peter Wermuth wurde in der Schweiz als Berner Kaffeekönig bekannt. Er hat in der Ukraine in den letzten drei Jahrzehnten eine grosse Kaffeehauskette aufgebaut, die er mittlerweile verkauft hat. Trotz seiner 73 Jahre ist der Berner unternehmerisch aber immer noch sehr aktiv. Derzeit hilft er seiner Geschäftspartnerin, in der Ukraine ein Vertriebsnetz für die Schweizer Kräuterbonbons Ricola aufzubauen. Vor seiner Heimreise in die Ukraine trifft er sich mit Blick in der Reinhard-Bäckerei und -Rösterei am Bubenbergplatz in Bern. Er ist verärgert und will reden.
Angst in der Bevölkerung wächst
Wermuth klagt, dass der Ukraine-Konflikt viel zu stark verpolitisiert werde. «Die Menschen in der Ukraine sind schon lange von den Russen umzingelt.» 2014 annektierte Russland die ukrainische Halbinsel Krim. Seither stehen die russischen Truppen an der Grenze. «Die ukrainische Bevölkerung hat sich daran gewöhnt», sagt Wermuth. Dann klingelt sein Telefon.
Seine Geschäftspartnerin aus der Ukraine meldet sich per Videoanruf und winkt einmal in die Runde. Wermuth fragt auf Russisch nach der aktuellen Situation. Es seien noch keine russischen Flaggen gehisst worden, scherzt sie und lacht. Wermuth übersetzt für Blick, lacht ebenfalls und beendet kurz darauf den Anruf. «Mit genau diesem Humor und dieser Gelassenheit ist die Bevölkerung lange mit der Situation umgegangen», erzählt er. Nun aber habe der Wind gedreht. «Die Verunsicherung bei den Menschen ist stark gewachsen.»
Wermuth sieht die Schuld dafür bei Ländern wie den USA oder Deutschland, die ihre Staatsangehörigen in der Ukraine klipp und klar zur Ausreise aufgefordert haben. «Das ist ein völlig falsches Zeichen. Damit lässt man die ukrainische Bevölkerung im Regen stehen», sagt Wermuth. Er hätte sich das Gegenteil gewünscht. «Die Länder hätten sich mit breiter Brust hinstellen und sagen müssen, dass auch Bürger von ihnen in der Ukraine leben. Das hätte eine abschreckende Wirkung gehabt. Stattdessen haut man ab, jetzt, wo die Situation brenzlig wird, und lässt die Ukrainerinnen und Ukrainer im Stich.»
Flucht mit der Familie?
Wermuth zweifelt nach wie vor an einem russischen Angriff. Trotzdem spreche man mit dem Umfeld über diese Möglichkeit. Besonders mit seinen vier Stiefkindern tauscht er sich regelmässig aus, schliesslich wolle man vorbereitet sein. «Sollte der Konflikt völlig eskalieren, will ich meine drei minderjährigen Stiefkinder in die Schweiz mitnehmen.» Weil in diesem Fall ein Flug keine Option mehr wäre, nimmt er am Donnerstag eine 30-stündige Autofahrt in die Ukraine auf sich.
Wermuth hat die vier Kinder seiner ukrainischen Partnerin wie seine eigenen grossgezogen. Die Beziehung ist mittlerweile in die Brüche gegangen. Doch der enge Kontakt zu den Kindern ist geblieben.
Ukrainer setzen ein kämpferisches Zeichen
Eine Flucht ist jedoch die letzte Option. Wermuth möchte eigentlich in der Ukraine bleiben. Dort hat er sein Umfeld und kennt, wie er sagt, viele Tausend Menschen. Die wachsende Bedrohung durch Russland habe die Menschen im Land zusammenschweisst. Hamsterkäufe, wie man sie in der Corona-Pandemie in vielen Ländern gesehen hat, gebe es in der Ukraine trotz angespannter Lage derzeit kaum.
Wermuth stellt noch etwas anderes fest: «Immer mehr Menschen, die russlandfreundlich eingestellt waren, wenden sich vom russischen Präsidenten Wladimir Putin (69) ab.» Am Mittwoch sollen zahlreiche Ukrainer vor dem Fenster oder auf dem Balkon ihre Nationalflagge gehisst haben. Damit habe man ein Zeichen in Richtung Russland setzen wollen.
Ex-Präsident wollte ihm die Kaffeekette klauen
Er ist überzeugt, dass die ukrainische Demokratie unter dem jetzigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (44) auf dem richtigen Weg ist. Die Korruption im Land sei zuletzt zurückgegangen. Das sah vor einigen Jahren noch ganz anders aus. Der frühere Präsident Wiktor Janukowytsch (71) habe ihm 2012 seine Kaffeehauskette wegnehmen wollen und Ware in Millionenhöhe konfisziert. «Ich musste 150 Kilometer weit zu einer Privatbank fahren und dort eine Tasche abstellen, in der umgerechnet eine halbe Millionen Franken waren», erzählt Wermuth. Danach sei das Problem aus der Welt gewesen. Im Vergleich dazu dürfte der Ukraine-Konflikt deutlich schwieriger zu lösen sein.