Der Schweizer Arbeitsmarkt steht vor einer grossen Herausforderung: Die grossen Babyboomer-Jahrgänge gehen in Pension und hinterlassen in den nächsten fünf Jahren eine immer grössere Lücke in der Arbeitswelt. Die Zahl der jungen Personen, die neu in den Arbeitsmarkt treten, ist deutlich kleiner.
Schliessen kann man diese Lücke über Zuwanderung oder indem man ältere Arbeitskräfte länger in den Unternehmen hält. Doch wie gross ist die Bereitschaft der Firmen, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab 55 einzustellen? Oder diese gar übers Pensionsalter hinaus weiterzubeschäftigen? Diesen Fragen ist der Lebensversicherer Swiss Life in seiner neusten Studie «Arbeit ohne Altersgrenzen» nachgegangen, für die über 1000 Arbeitgeber befragt wurden.
Beide Seiten meinen, der andere will nicht
Eine zentrale Erkenntnis, laut Studien-Co-Autor Andreas Christen (39): «Sowohl die Arbeitgeber als auch die Beschäftigten haben beide das Gefühl, dass die andere Seite eher wenig Interesse an einer Weiterbeschäftigung übers Pensionsalter hinaus haben». So schätzen 70 Prozent der Arbeitgeber die Bereitschaft der Angestellten gering ein, über das Referenzalter hinaus zu arbeiten, so der Leiter Research Vorsorge bei Swiss Life zu Blick. Dies ist wohl einer der Gründe, dass die meisten Unternehmen die Erwerbstätigkeit im Rentenalter nicht fördern.
Das bestätigt eine Swiss-Life-Studie vom Sommer: Gemäss dieser verspüren Arbeitnehmer eher selten ein klares Interesse der Firmen für eine Weiterarbeit nach 65. Dabei könnten sich immerhin fast jeder zweite Beschäftigte tendenziell vorstellen, unter gewissen Umständen länger zu arbeiten. «Dazu zählen flexiblere Arbeitszeiten, mehr Ferien und ein tieferes Pensum», so der Experte. Genau hier setzen die wenigen Firmen an, die tatsächlich auch Massnahmen ergreifen, um aktiv ältere Angestellte länger zu halten.
Thema dürfte in Zukunft an Bedeutung gewinnen
Was Christen überrascht: «Auch Firmen, die stärker vom Fachkräftemangel betroffen sind, werden bei der Förderung einer Weiterbeschäftigung nicht aktiver.» Dabei gibt jeder zweite Arbeitgeber in der Swiss-Life-Umfrage an, Schwierigkeiten bei der Suche nach qualifizierten Fachkräften zu haben. Doch auch wenn das Interesse auf Arbeitgeberseite mässig ist, liegt es leicht höher als bei der letzten Befragung vor vier Jahren. «Ich rechne damit, dass das Thema mit der Pensionierung der Babyboomer in den nächsten Jahren stärker in den Fokus gerät», sagt Christen.
Schon heute ist ein Fünftel des ungenutzten Arbeitskräftepotenzials in der Altersgruppe der 55- bis 70-Jährigen zu finden. Wollen die Unternehmen dieses Potenzial besser nutzen, müssten sie rechtzeitig aktiv Gespräche mit den Beschäftigten suchen und die Möglichkeiten aufzeigen, so Christen.
«Arbeitgeber sind skeptisch»
Doch neben der Annahme, dass die Mehrheit der Rentner gar nicht länger arbeiten möchte, dürfte es für die Zurückhaltung der Arbeitgeber aber noch andere Gründe geben. «Viele Arbeitgeber sind skeptisch, ob ältere Erwerbstätige in der Lage sind, im Rentenalter weiterzuarbeiten», sagt Nadia Myohl (32), Researcher Vorsorge bei Swiss Life. Als Gründe führen die Befragten teilweise eine tiefe wahrgenommene Leistung dieser Altersgruppe, eine tiefe Anpassungsfähigkeit oder fehlende technologische Kenntnisse an. Deshalb ergreifen sie keine Massnahmen, um ältere Personen möglichst lange im Betrieb zu halten.
Die Realität zeigt, dass es bereits heute für über 55-Jährige vergleichsweise schwierig ist, eine Neuanstellung zu finden. Dabei geben 78 Prozent der Unternehmen an, dass sie «eher» oder gar «grundsätzlich bereit» wären, ältere Leute neu einzustellen. Die Studienautoren können aber nicht ausschliessen, dass die Antworten teilweise verzerrt sind, weil die Befragten möglicherweise sagen, was gesellschaftlich erwünscht ist. Ein Blick auf die 2023 neu eingestellten Personen zeigt: Nur jeder Zwölfte war über 55 Jahre alt. Damit ist diese Altersgruppe gemessen an der Gesamtbeschäftigung deutlich untervertreten. Das liegt aber auch an den Beschäftigten. In diesem Alter können sich nur die wenigsten einen Stellenwechsel vorstellen.