Angstkultur, Homeoffice-Aus, steigender Aktienkurs – ein Besuch bei Sulzer-CEO Suzanne Thoma
Wie die umstrittenste Chefin der Schweiz wirklich tickt

Suzanne Thoma steht gerade heftig in der Kritik. Dabei ist die Sulzer-Chefin eigentlich damit beschäftigt, den Industriekonzern zu revolutionieren. Ein Besuch vor Ort in Winterthur.
Publiziert: 22.03.2025 um 15:43 Uhr
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Aktualisiert: 22.03.2025 um 17:50 Uhr
Suzanne Thoma steht medial im Regen. Die Handelszeitung hat sie im Sulzer-Hochhaus in Winterthur besucht.
Foto: Paolo Dutto

Darum gehts

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Stefan Barmettler
Handelszeitung

Uli Forte steht in der Windjacke und dunkelblauen Nike-Tretern auf dem Rasen der Schützenwiese in Winterthur und schüttelt den Kopf. Es ist zum Verzweifeln. Im Nachmittagstraining des FC Winterthur misslingen selbst die simpelsten Spielzüge. «Nein, so nicht», hallt es durchs leere Stadion. Im Sulzer-Tower über dem Fussballstadion sitzt Suzanne Thoma in ihrem Büro und schliesst die Fenster. Die schrillen Töne aus dem Stadion lenken im Chefbüro auf Etage 23 nur ab.

Während Forte gegen den Abstieg aus der Super League kämpft, strebt Thoma nach Höherem. Sie will mit Sulzer in die oberste Industrieliga Europas aufsteigen, zu ABB und Siemens. Ergo wirbelt sie durch den Konzern und hält das Team auf Trab. «Diese Energie, unglaublich», staunt einer, der mit ihr zusammenarbeitet. Im Gespräch sagt Thoma, sie widme sich maximal 55 Stunden die Woche dem Geschäft, was ihr intern kaum jemand abnimmt. Sie kennt die Zahlen der Betriebsrenditen auf die Kommastelle. Selbst die Leistung und den Jahrgang der Wasserturbine in der grossflächigen Empfangshalle im Sulzer-Hochhaus kennt sie.

Zweifellos ist die Konzernchefin hoch motiviert – und sie verspürt Rückenwind. Seit ihrem Amtsantritt als Konzernchefin im November 2022 legte die Aktie um rekordverdächtige 135 Prozent zu, der SPI-Börsenindex stieg in dieser Zeit bloss um 25 Prozent. Bei ihrem Ehrgeiz lässt sie sich von niemandem bremsen, weder vom Personal noch vom Verwaltungsrat – und schon gar nicht von anonymen Kritikern, die aus dem Hintergrund gegen sie gifteln.

Viele Wechsel im obersten Management

Sie agiert mit einer Machtfülle, die schier grenzenlos ist. Suzanne Thoma ist Konzernchefin, dazu Präsidentin des Verwaltungsrats, Vorsitzende des Strategie- und Nachhaltigkeitsausschusses und obendrein Mitglied im Nominationsausschuss. Die Vielzahl ihrer Mandate ist für Corporate-Governance-Puristen ein Graus, doch an die Kritik hat sie sich mittlerweile gewöhnt. Ihr geht es ohnehin um mehr als um Formalien, es geht um eine Revolution. Die allmächtige Chefin würde es natürlich nie so sagen, sie spricht lieber von einem «Transformationsprozess», der vier bis fünf Jahre in Anspruch nehme.

Der Hauptsitz überragt die Schützenwiese, wo der FC Winterthur spielt.
Foto: Toto Marti

Es gibt viel zu tun, mittlerweile laufen achtzig Projekte, um die Firma in die Gänge zu bringen. «Sulzer ist ein Diamant, der geschliffen werden muss», sagt sie. Und sie setzt überall an, bei den Kosten, in der Produktion, bei der Forschung, beim Verkauf und bei der Firmenkultur. Bei der Exekution ihrer Pläne kennt sie wenig Zurückhaltung. Sie ist analytisch, strukturiert und entscheidet schnell. Und verlangt ziemlich viel. Wer nicht mit aller Kraft in dieselbe Richtung zieht, kriegt eher früher als später ein Problem. Rät sie einem Kadermann, seinen Entscheid nochmals gut zu überdenken, bedeutet dies – im Fussballjargon gesprochen – die Gelbe Karte. Widerspruch ohne starkes Gegenargument schätzt sie nicht, langfädige Ausreden oder wohlfeile Beschönigungen bringen sie auf die Palme.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

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Das bekamen schon einige zu spüren, die glaubten, der Elan der dauermotivierten Chefin werde sich mit der Zeit schon legen. Sie haben sich getäuscht, das Tempo bleibt auch in ihrem dritten Dienstjahr hoch. Das schmeckt nicht allen. Die Liste der Abgänge im Kader – freiwillig oder unfreiwillig – ist mittlerweile lang und wird immer länger. Davon zeugen die überschaubaren Dienstalter an Schlüsselstellen: Die Chefs der drei Sulzer-Divisionen Flow, Services und Chemtech sind erst seit kurzem im Amt – zwei seit Oktober 2024, einer seit diesem März. Der jüngste Abgänger war der Chef von Flow, der im Januar auf Linkedin noch verkündete: «Let’s make 2025 a year full of success – together!» Kurz darauf wechselte er zum deutschen Milliardenkonzern Voith in die Geschäftsleitung.

Besuche ohne Voranmeldung

Der forsche Führungsstil von Thoma gibt vorab in der Konzernzentrale im Sulzer-Hochhaus in Winterthur zu reden. Auch, dass sie ab und zu ohne Voranmeldung in Meetings sitzt und munter mitdiskutiert, hat man mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Eine Mehrheit freut es, dass sich die Chefin nicht hinter Konzernstäben versteckt und den direkten Kontakt zum Personal sucht, andere sehen in ihr den Kontrollfreak. Mittlerweile findet dieser Missmut medial ein Echo. «Es herrscht eine Angstkultur in Winterthur», schrieb Blick vor kurzem und fragte, ob die Chefin den Draht zum Personal verloren habe.

Gespräche der «Handelszeitung» vor Ort mit einem Dutzend Mitarbeitenden zeigen ein differenziertes Bild. Klar, Thoma will Sulzer dynamisieren und hat sehr konkrete Vorstellungen. Sie sagt: «Ich will die Marktorientierung verstärken.» Da gibt es einiges zu verändern, denn die Geschäftsentwicklung glich vor ihrem Antritt einem Jo-Jo-Spiel: Mal stieg der Umsatz, dann sank er, um ein Jahr später wieder zu wachsen und so weiter. Reflektiert wurde dieser wilde Ritt im Aktienkurs, der zum Leidwesen der Aktionäre lange kaum an Höhe zulegte.

Zwar geniesst Sulzer bei Grosskunden wie Exxonmobil, Shell oder Petrobras einen exquisiten Ruf, zumal die Firma «Gebrüder Sulzer, Giesserei in Winterthur» seit über 190 Jahren ausgefeilte Ingenieurskunst und Zuverlässigkeit vertreibt. Aber man steht sich selbst im Weg: Es fehle an Dynamik, und zwar in der Produktion, im Marketing, im Verkauf und im Headoffice in Winterthur, wie langjährige Insider konstatieren. Hinderlich sei ein tief verankertes Silodenken, bei dem jede Division auf ihre Einzigartigkeit poche. Thoma lässt sich nur entlocken, sie habe bei Amtsantritt 2022 «ein komplexes Set-up» vorgefunden. Andere sagen, jede Geschäftseinheit habe über Jahrzehnte ihre eigenen IT-Systeme und Prozesse gepflegt.

Diesem Wildwuchs setzte Thoma das Programm «One Sulzer» entgegen, das Kooperation und Standardisierung anstrebt. Auch hier schreckt die Chefin nicht vor unliebsamen Entscheiden zurück und vereinigt dezentrale Funktionen, wo es nur geht. Sie führte auch Key Accounts ein, um Giganten wie Saudi Aramco und General Electric aus einer Hand zu bedienen. Es sind Schritte, welche die Konkurrenz schon vor Jahrzehnten machte. Die Finanzverantwortlichen der Divisionen, die sich einst stolz CFOs nennen durften, hat sie entmachtet und titelmässig auf Controller einer Division abgestuft. Nun liegt die Finanzverantwortung zentral beim Finanzchef des Konzerns auf Etage 23. Die einen sehen es als Degradierung, andere sind froh, dass die Abschreibungspraktiken endlich konzernweit vereinheitlicht werden.

Fertig Homeoffice!

Einen nationalen Aufschrei gab es schliesslich, als Thoma im Spätherbst das Homeoffice-Regime aus der Corona-Zeit abschaffte und die Schweizer Belegschaft in die verwaisten Büros im Sulzer-Hochaus zurückbeorderte. Die Sulzer-Chefin war mit ihrer Entscheidung eine Trendsetterin, denn nach ihrem Diktum zogen auch die Chefs von Schindler, der Swiss Re und der UBS die Schrauben an. Die fetten Schlagzeilen in den Schweizer Medien freilich blieben an Thoma hängen. «Thoma schafft das Homeoffice ab und erzürnt das Personal», schrieb der «Tages-Anzeiger». Sie selber sieht den Entscheid als Solidarität zu jenen 85 Prozent der Mitarbeitenden, die in Indien oder Deutschland in der Fabrik oder an der Verkaufsfront stehen. Ohnehin ist die Richtung vorgegeben: in der Produktion, im Verkauf und im Projektmanagement aufbauen, im Backoffice abbauen. Eine Firmenpräsentation nennt das Ziel: «Die Overhead-Funktionen vereinfachen und sie in einen positiven Dienst für die Firma stellen.» Der Satz kann auch als Fingerzeig für einen drohenden Abbau in der Zentralbürokratie verstanden werden, wo heute noch Hundertschaften angestellt sind – und offenkundig mitunter negative Wirkung entfalten und den Drive der Firma bremsen.

Wie viel Potenzial in dieser allzu lange wenig ambitionierten Firma steckt, zeigt eine simple Relation: Sulzer schaffte vergangenes Jahr beim Umsatz ein Plus von 25 Prozent, doch das Personal, das für diesen eindrücklichen Sprung sorgte, wuchs längst nicht im Gleichschritt, sondern nur um 4,5 Prozent. Und was noch tiefer blicken lässt: Um diese Mehrproduktion zu bewältigen, waren nicht einmal kostspielige Fabrikausbauten nötig.

Optimieren, optimieren, optimieren

Das zeigt: Thoma geht zweifellos beherzt ans Werk und dreht an vielen Schrauben, um in jedem Winkel die Effizienz zu steigern. Selbst am Capital Markets Day, an dem sie die Analystengemeinde mit stolzen Prognosen inspiriert, ortet sie Potenzial: indem man die Investorenvertreter in der Mittagspause nicht am langen Essbüfett anstehen lässt und so wertvolle Zeit vergeudet, sondern Rundtische aufstellt, von denen die leckeren Häppchen von allen Seiten abgreifbar sind.

Neben diesem ausgeprägten Sinn fürs Optimieren profitiert Thoma freilich auch von den Absatzmärkten, die ihr in die Hände spielen: Die Öl- und Gasförderung erlebt ein Revival und benötigt leistungsstarke Pumpen – Sulzer hat sie. Das gilt ebenso für den Rohstoffabbau im Allgemeinen oder die Herstellung von E-Fuel für die Airlinebranche, für die Einlagerung von CO2 im Meeresgrund oder die Herstellung von Bioplastik aus Agrarabfällen. Kurzum, man ist bei den Traditionsindustrien im Geschäft und auch bei den Renewables – man hantiert mit Schweröl und mit Zuckerrohr.

Die guten Geschäfte in diesen Wachstumsfeldern finden auch in den Zahlen Niederschlag: Die Betriebsrendite in den Geschäftsfeldern steigt, die Umsätze und Bestelleingänge legen zu, der Kapitaleinsatz ist ausgesteuert – und als Folge steigt der Aktienkurs. Das freut zuvorderst die Aktionäre, die in der Vergangenheit litten, allen voran Grossinvestor Viktor Vekselberg, der von der zupackenden Chefin schwer beeindruckt ist. Doch auch das allseits geforderte Personal zieht – trotz kritischer medialer Begleitung – offenkundig mit.

Sulzer gilt als Deluxe-Arbeitgeber

So hat die Firmentreue selbst im verwöhnten Schweizer Hauptsitz keinesfalls gelitten, im Gegenteil. Seit Thoma hart am Wind segelt, ist die Fluktuationsrate um einen Drittel auf 7 Prozent gesunken. Was die eingeforderte Temposteigerung fürs Sulzer-Team verdaubarer macht, ist der üppige Zahltag. Sulzer gilt in der Schweizer Industrie als Deluxe-Arbeitgeber, der im Gleichschritt mit dem ABB-Konzern die höchsten Branchenlöhne ausrichtet. Dazu profitiert die Mehrheit sehr direkt von der Aktienhausse, indem sie an Bonusprogrammen partizipiert. Bei der Pensionskasse wiederum, die stets mit hoher Ausschüttungsquote und Kapitalverzinsung brilliert, wird sogar die ABB-Belegschaft neidisch. Das war auch 2024 der Fall: Während die Verzinsung bei Sulzer satte 9 Prozent erreichte, war es bei ABB mit 4 Prozent nicht einmal die Hälfte.

Suzanne Thoma, die unerschütterliche Industrielle, will es auch diesmal allen zeigen. Zuerst brachte sie den Energiekonzern BKW zum Glühen, nun baut sie bei Sulzer den Turbo ein. Schafft sie auch dieses Kunststück, gehört sie definitiv in die Champions League der Industrie. Derweilen stolpert Uli Forte mit seinem FC Winterthur auf der Schützenwiese – unter den Augen der Sulzer-Chefin – dem Abstieg entgegen.

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