Ältere Haushalte brauchen viel zu viel Wohnfläche!
So könnten in der Schweiz 170'000 Wohnungen frei werden

Eine aktuelle Raiffeisen-Studie zum Schweizer Immobilienmarkt kommt zu einem brisanten Schluss: Würde man den aktuellen Wohnraum fairer verteilen, hätten 450'000 Menschen mehr Platz.
Publiziert: 08.02.2024 um 07:45 Uhr
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Aktualisiert: 08.02.2024 um 12:50 Uhr
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Eine aktuelle Raiffeisen-Studie sieht im Schweizer Immobilienmarkt einen grossen Fehlanreiz.
Foto: IMAGO/Andreas Haas
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Martin SchmidtRedaktor Wirtschaft

Immer mehr Menschen in der Schweiz leben unfreiwillig auf sehr engem Raum. In Familien teilen sich Kinder ein Zimmer. Leute gründen Wohngemeinschaften und nutzen ausser der Küche alle vorhandenen Räume als Schlafzimmer. Ein gemeinsames Wohnzimmer? Fehlanzeige! Dafür sind die Wohnungen zu teuer. Die städtische Bevölkerung im Erwerbsalter geht punkto Wohnsituation in Richtung Batteriehaltung.

Ganz anders sieht es bei den Rentnern aus, die schon kurz nach der Pensionierung im Schnitt mit mehr als 55 Quadratmeter viel mehr Wohnraum beanspruchen. Zum Vergleich: Bei den 25- bis 50-Jährigen sind es pro Person gerade mal zwischen 39 und 45 Quadratmeter, wie Raiffeisen in ihrer aktuellen Studie über den Schweizer Immobilienmarkt aufzeigt. 

Fehlanreiz im Mietrecht

Die Raiffeisen spricht deshalb von einer «grotesken Fehlallokation». Als Ursache machen die Immobilienexperten der Bank das Schweizer Mietrecht aus. Nach diesem steigen Wohnungsmieten nach Vertragsabschluss nur noch sehr eingeschränkt an. Etwa bei einer Erhöhung des Referenzzinssatzes, Anpassungen an die Teuerung oder wertvermehrenden Investitionen. Die sogenannten Bestandsmieten entkoppeln sich so über die Jahre hinweg stark von den Angebotsmieten. 

Die Unterschiede sind enorm: In den grössten fünf Städten Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich zahlen Mieter in einer 20-jährige 4-Zimmer-Wohnung mit 100 Quadratmeter in Bestandsmiete im Schnitt 1900 Franken pro Monat. Wer eine solche Wohnung auf dem freien Markt ergattern muss, wird dafür knapp 2300 Franken berappen müssen. 

Im schweizweiten Schnitt kostet die erwähnte 4-Zimmer-Wohnung in Bestandsmiete nach 10 bis 14 Jahren 160 Franken weniger als eine vergleichbare zur aktuellen Angebotsmiete. Nach 25 Jahren beträgt die Differenz gar 30 Prozent oder 350 Franken. 

Umzug in kleinere Wohnung lohnt sich nicht

Das führt dazu, dass sich Umzüge in kleinere Wohnungen bereits nach wenigen Jahren finanziell kaum oder gar nicht mehr lohnen. In den fünf grössten Städten ist dies bei einer 4-Zimmer-Wohnung bereits nach fünf Jahren der Fall. In dieser Zeit sind die Angebotsmieten so stark gestiegen, dass eine 3-Zimmer-Wohnung praktisch gleich viel kostet. 

Die Schere nimmt mit den Jahren massiv zu: Wer bereits seit 20 oder 30 Jahren in einer 4-Zimmer-Wohnung lebt, kann froh sein, für den gleichen Preis noch eine 2-Zimmer-Wohnung zu finden. 

So überrascht es kaum, dass in den Schweizer Zentren 35 Prozent der Miethaushalte seit über 10 Jahren in ihrer Wohnung sind. In ländlichen Regionen ist der Anteil derart langer Mietverhältnisse deutlich geringer.

Gerade Ältere ziehen kaum um

Bei den über 45-Jährigen sinkt der Platzbedarf oft, da die Kinder irgendwann ausziehen. Trotzdem wechseln sie viel seltener die Wohnung. Obwohl diese Alterskategorie 46 Prozent der Bevölkerung ausmacht, entfallen auf sie nur 23 Prozent der Umzüge.

Ältere Haushalte leben entsprechend oft in Wohnungen, in denen die Zahl der Zimmer jene der Bewohner um zwei oder mehr übersteigt. Die Studienautoren gehen mit der aktuellen Praxis hart ins Gericht: «Angesichts der weiter anhaltenden, deutlichen Angebotsverknappung am Wohnungsmarkt ist diese Wohnflächenverteilung schlicht eine Verschwendung.» Denn diese Wohnungen fehlen jüngeren Haushalten, die dringend mehr Wohnraum benötigen

Platz für weitere 450'000 Menschen

Die Raiffeisen macht ein gewaltiges Wohnraumpotenzial aus: Würde die ältere Generation ihren Flächenverbrauch an den Durchschnitt anpassen, würden 17 Millionen Quadratmeter frei werden. Dies entspricht rund 170'000 zusätzlichen Wohnungen mit 100 Quadratmeter oder Wohnraum für fast 450'000 Menschen. 

Dieser fehlende Wohnraum führt gemäss den Autoren noch zu einem weiteren Problem: «Neben grundsätzlichen Fragen zur generationenübergreifenden Gerechtigkeit entstehen durch diese Situation sehr fragwürdige Marktverzerrungen.» So werde die sinnvolle Strategie der Innenverdichtung unterwandert und das ohnehin knappe Angebot an Wohnflächen zusätzlich reduziert. «Dies treibt die Marktmieten noch stärker in die Höhe und verstärkt damit die beschriebene Anreizproblematik weiter», halten die Autoren fest. 

Mietrecht abbauen?

Ihre Lösung: Auch bei Bestandswohnungen müssten im Sinne der Kostenwahrheit für die verwendete Fläche ein angemessener Preis bezahlt werden. Das heisst im Prinzip, dass der Schutz für Bestandsmieten im Mietrecht ausgehöhlt wird. Realistischerweise seien solch tiefgreifende Eingriffe ins heiss umkämpfe Mietrecht jedoch kaum möglich, halten die Autoren fest.

Der Vorschlag wirft dennoch Fragen auf: Wie realistisch ist es, dass die Angebotsmieten tatsächlich merklich sinken? Oder würden sich in der Praxis nur die Bestandsmieten nach oben anpassen?

«Angebotsmieten in der gelebten Praxis»

Vertretern des Mieterinnen- und Mieterverbands Schweiz dürften sich bei der Lektüre der Studie zudem die Zehennägel aufrollen, argumentieren die Autoren gleich mehrfach mit der Marktmiete. So werden «Angebotsmieten in der gelebten Praxis durch Angebot und Nachfrage bestimmt», heisst es an einer Stelle.

Das Mietrecht will jedoch genau das verhindern und spricht von einer maximalen Nettorendite für Mietwohnungen, die derzeit 3,75 Prozent beträgt. Nur wenn Wohnungen über 30 Jahre alt sind, kommt schliesslich die Orts- und Quartierüblichkeit zum Zug. Noch 2017 kam die Raiffeisen in einer Studie zum Schluss, dass die Bestandsmieten entsprechend 40 Prozent tiefer liegen müssten.

Zurück zur aktuellen Studie: Die Frage nach einer gerechteren Verteilung von Wohnfläche dürfte in Anbetracht der hohen Zuwanderung und tiefen Bautätigkeit noch an Brisanz gewinnen. 


 

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