Ein Spätsommer in den Sechzigern am Bahnhof Solothurn, meine Grossmutter setzt sich in den Zug nach Genf. Dort würde sie ihre Französischkenntnisse perfektionieren und Welt- wie Welschluft schnuppern.
Bienvenue im Au-pair-Jahr! Dieses startet meist im August. Und wer hats erfunden? Laut Historikern vermutlich wir Schweizer. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts reisten Frauen aus dem deutschsprachigen Landesteil in die Romandie und kümmerten sich dort um Heim und Nachwuchs. Einst auch, um sich auf die Arbeit in Haushalt und Kindererziehung vorzubereiten.
Inzwischen ist ein Au-pair-Jahr ebenso Männersache. Allerdings hadert es nun mit Demografie und Folgen der Pandemie: Die Branche hat ein Personalmanko.
Einbruch von bis zu 60 Prozent
Cortébert, eine kleine Gemeinde im Berner Jura diese Woche. Ben (7) Mascha (4) und Lio (2) bauen Schlösser im heimischen Sandkasten. Daneben ihre Mutter Franziska Wenger Vonlanthen: «Wir suchen seit Monaten ein Au-pair, das die drei betreut, während mein Mann und ich in unserem Betrieb arbeiten. Aber wir finden einfach niemanden.» Der Verband Pro Filia vermittelt Einsätze – es werden immer weniger, sagt dessen Präsidentin Therese Suter: «Familien, die ein Au-pair suchen, haben wir genügend, aber leider zu wenig Jugendliche, die zur Verfügung stehen.» Alle angefragten Schweizer Vermittlungsorganisationen berichten von dem Rückwärtstrend. Manche sprechen von einem Einbruch von bis zu sechzig Prozent in den letzten zehn Jahren. Ein Grund dafür, dass das Zwischenjahr an Attraktivität verloren hat: die tiefen Schulabgängerzahlen und der Fachkräftemangel.
«Ein Au-pair-Jahr ist unter anderem eine Überbrückungsmöglichkeit für Jugendliche, die keine Lehre oder passende Anschlusslösung gefunden haben», sagt Gabriella Günther, Co-Geschäftsleiterin der Didac Schulen, die ein zehntes Schuljahr kombiniert mit einem Au-pair-Jahr anbieten. «Heute aber gibt es weniger Schulabgänger und gleichzeitig ein grosses Lehrstellenangebot.» Mit der Pandemie zeigte sich eine weitere Zwickmühle, denn Au-pairs müssen Erfahrung im Kinderhüten mitbringen. «Babysitting inmitten einer sanitären Krise ist mit Schwierigkeiten und Ängsten verbunden. Viele Jugendliche konnten keine entsprechenden Erfahrungen sammeln.»
Sprachschule statt Haushalt
Weiter dürfte das rückläufige Interesse mit neuen Ausbildungskriterien zusammenhängen: Bis vor wenigen Jahren musste man für den Beginn gewisser Lehrstellen auf seinen 18. Geburtstag warten. «Und viele Eltern scheinen mehr finanzielle Möglichkeiten zu haben als früher, der Nachwuchs besucht nun lieber eine Sprachschule als irgendwo den Haushalt zu führen», sagt Therese Suter von Pro Filia. Folgen hat der Mangel an Au-pairs für Familien, die mit teuren Kita-Plätzen hadern. Abhandenkommen dürfte damit auch ein gewisser Austausch zwischen den Landesteilen, vielleicht ein Stück «cohésion nationale».
Birmingham statt Berner Jura. In Cortébert bleibt man aber optimistisch: «Meine Hoffnung ist nicht gestorben – ich drücke weiter die Daumen», sagt Franziska Wenger Vonlanthen lachend. Klappen könnte es mithilfe früherer Generationen von Schulabgängern. Auf der Plattform aupair.ch schreiben sich mehr ältere Menschen ein als zuvor, erzählt Romandie-Verantwortliche Beatrice Zürcher: «Solche, die im Pflegesektor gearbeitet haben, und denen der Job nach der Corona-Krise verleidet ist.» Andere Agenturen im Ausland sind spezialisiert im Vermitteln von Au-pairs über 50. Die sogenannten «Granny Au-pairs» trumpfen mit ihrer Lebenserfahrung.
Mein Grosi könnte ihre «expérience» wiederholen.