SonntagsBlick: Frau Buchmann, welchen Stellenwert hat Arbeit hierzulande?
Marlis Buchmann: Die Jahresarbeitsstunden hier sind im internationalen Vergleich sehr hoch, was von der Bevölkerung weitestgehend so akzeptiert wird – die Schweizerinnen und Schweizer sind insgesamt also ein sehr arbeitsames Völkchen.
2012 hat sich das Stimmvolk an der Urne gegen sechs Wochen Ferien pro Jahr ausgesprochen. Heute wird die Forderung nach der Viertagewoche lauter. Was hat sich verändert?
In den letzten Jahren ist die Work-Life-Balance für die Menschen wichtiger geworden. Die Arbeit ins Zentrum des Lebens zu stellen, ist für viele nicht mehr erstrebenswert. Unsere Forschung zeigt, dass seit den 1990er-Jahren, die Stelleninserate für Fast-Vollzeitstellen, also alle Arbeitsstellen zwischen 80 und 95 Prozent, enorm zugenommen haben. Das ist immer noch viel, aber wir bewegen uns langsam weg von der Norm, 42 Stunden die Woche arbeiten zu müssen.
Ein Treiber dieser Forderungen ist die Generation Z. Den Jungen ist Karriere weniger wichtig, sie wollen mehr Zeit für sich. Eine Trotzreaktion gegen die Boomer-Eltern?
Für die Boomergeneration war Arbeit der Identitätsstifter. Seit den 90er-Jahren beobachten wir im Westen einen kulturellen Wandel. Wir individualisieren uns immer stärker – und zwar im Sinne der Selbstrealisierung: Wonach strebe ich? Was ist meine Passion? Das umfasst das ganze Leben und nicht nur die Arbeit. Das manifestiert sich stark in der jungen Generation, die jetzt in den Arbeitsmarkt eintritt.
Ältere werfen der Gen Z auch vor, sie sei faul.
Wenn man 100 Prozent arbeiten als Norm sieht, dann sind alle faul, die weniger arbeiten. Diese Sichtweise ist verkürzt, denn ein beträchtlicher Teil, vor allem Frauen, arbeitet Teilzeit. Seit dem Jahr 2000 folgt Krise auf Krise. Damit müssen junge Menschen umgehen, es betrifft vor allem ihre Zukunft. Daher finde ich es verständlich, dass sich die Jugend genau überlegt: Wie sollen wir uns in dieser Welt einrichten?
Schon jetzt gibt es in der Schweiz einen Fachkräftemangel – und immer weniger rücken nach. Ist es nicht verrückt, in dieser Situation weniger Arbeit zu fordern?
Man könnte meinen, es sei paradox. Doch: Arbeitskräfte kommen nicht nur aus dem Inland. Die Schweiz hat einen hohen Anteil an hoch qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland, was viel ausgleicht. Das wird auch die nächsten 20 Jahre so bleiben. Gleichzeitig geht der Trend dahin, dass immer höher qualifizierte Arbeitskräfte benötigt werden. Deswegen müssen wir den jungen Menschen in der Schweiz vermitteln: Bildung, Bildung, Bildung ist essenziell um auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft bestehen zu können.
Digitalisierung und Pandemie schickten die Menschen ins Homeoffice. Arbeiten wir zukünftig nur noch von zu Hause aus?
Man kann heute in bestimmten Jobs für zwei Monate ins Ausland gehen und von dort arbeiten, was vor zehn Jahren noch undenkbar war. Durch die Flexibilisierung des Arbeitslebens kann auch das Privatleben freier gestaltet werden. Andererseits haben viele zu Hause keinen ruhigen Arbeitsplatz und können wegen der fehlenden Abgrenzung nicht abschalten. Online arbeiten hat seine Limiten. Der informelle Austausch gestaltet sich schwieriger. Projekte und innovative Ideen schmieden sich besser bei persönlichen Begegnungen. Die Arbeitgeber fordern bereits jetzt wieder verstärkt Anwesenheit. Die Menschen werden immer an den physischen Arbeitsort zurückkehren – nur eben flexibler.
Neben dem Homeoffice brachte die Digitalisierung auch künstliche Intelligenz hervor. Werden Maschinen zukünftig Mängel auf dem Arbeitsmarkt ausgleichen?
Bisher konnte die Technologie vor allem standardisierte Arbeit übernehmen. Dort, wo es um Entscheidungen, Schlussfolgerungen und analytische Überlegungen geht, ist der Mensch der Maschine noch voraus. Die Fachkräfte fehlen vor allem am oberen Ende. Aber: Es hängt alles davon ab, wie die künstliche Intelligenz sich weiterentwickelt. Je nachdem sind schon einschneidende Konsequenzen für viele Berufsfelder zu erwarten.
Sind wir in 50 Jahren alle Dienstleister der künstlichen Intelligenz?
Nein, das glaube ich nicht. Die Maschine ist vom Menschen gemacht, weswegen er immer einen Schritt voraus sein wird. Technologieschübe gibt es seit der Industrialisierung. Bisher wurden die weggefallenen Arbeitsplätze immer durch neue Berufsfelder ersetzt. Der Mensch erfindet immer Neues, dadurch ist der Gesellschaft bisher nie die Arbeit ausgegangen. Heute gibt es so viele Bereiche, in denen Arbeitsplätze schlummern, aber der Markt noch fehlt. Stichwort: Ökologie und Klimawandel, mit Arbeit Krisen lösen.