In vielen Walliser Bergdörfern geht es seit Jahren bergab: Die Einwohner werden immer älter oder wandern in den Talgrund ab. Der Dorfladen und die Beiz machen zu wenig Umsatz und in der Dorfschule fehlen die Kinder – bis sie irgendwann ganz schliessen müssen. Die Gemeinderäte in den Dörfern sind gefordert.
In den Gemeinden Goms und Obergoms VS steht mit der Gesundheitsversorgung derzeit besonders viel auf dem Spiel. Die Gemeinden kämpfen seit Monaten für den Erhalt des Nachtpikettdienstes der Notfallambulanz. «Ohne Nachtambulanz droht uns eine Abwanderung. Dann wird unsere Region massiv an Attraktivität verlieren», sagt der Obergommer Gemeindepräsident Patric Zimmermann (43) in seinem Büro in Obergesteln.
Wegen personeller Engpässe sollte die Gommer Nachtambulanz schon auf den 1. Januar 2022 in den Walliser Talgrund verlegt werden. Als Mitglied des Walliser Parlaments konnte Zimmermann eine Mehrheit von einem Aufschub überzeugen. Nun sieht jedoch alles danach aus, dass die Nachtambulanz ab Juli doch noch gestrichen wird.
Es scheitert am Geld
Für Zimmermann ein absolutes No-Go. «Wir sind eine boomende Tourismusregion. Neben den 2000 Einwohnern leben in der Hochsaison 10'000 Feriengäste in den beiden Gemeinden, da muss die Notfallversorgung rund um die Uhr gewährleistet sein.»
Bei einem Notfall droht nun eine lange Fahrt ins Spital. «Wird die Ambulanz talabwärts verschoben, würde ein Nachteinsatz bis ins Spital mit Hin- und Rückfahrt künftig bis zu drei Stunden dauern», sagt Zimmermann.
Die Nachtambulanz dürfte vor allem an der Finanzierung scheitern: Die Kantonale Walliser Rettungsorganisation hat ein Gesamtbudget von gut 13 Millionen Franken zur Verfügung – zu wenig. In der Vergangenheit wurde der Ambulanzdienst bereits in anderen Walliser Seitentälern gestrichen. Zimmermann hat dazu eine klare Meinung: «Die Rettung eines Menschenlebens darf nicht am Geld scheitern. Man müsste für die Gesundheitsversorgung im gesamten Kanton mehr Mittel zur Verfügung stellen.»
Trendwende geschafft
Einen langen Kampf hat auch die Gemeinde Embd VS, eines der steilsten Dörfer der Schweiz, hinter sich: Die Einwohnerzahl ist in diesem Jahrtausend von 353 auf 285 abgestürzt. Einer der Gründe: Viele Häuser im Dorf sind alt und hinken den heutigen Wohnansprüchen hinterher. Gemeindepräsident Stefan Lorenz (44) möchte daher neuen, modernen Wohnraum schaffen. «Wohnungen zu bauen, gehört eigentlich nicht zu den Aufgaben einer Gemeinde», sagt Lorenz zu Blick. «Doch für Investoren sind kleine Bergdörfer nicht attraktiv genug.»
Nun liegt dank der Gemeinde eine Lösung auf dem Tisch. Lorenz zeigt kurz nach dem Dorfeingang auf eine Wiese. «Hier beginnt in ein paar Wochen der Bau eines Mehrfamilienhauses mit acht Wohnungen.» Gebaut werden sie von einem lokalen Bauunternehmer, den die Gemeinde erst davon überzeugen musste, dass auch wirklich eine Nachfrage besteht.
Sieben der acht Wohnungen sind derzeit reserviert. Eine davon von Sascha Lengen (27) und Carole Zeiter (25). «Für uns war immer klar, dass wir in einem kleinen Dorf leben wollen», sagt Zeiter. Für den Kaufentscheid des Paars war aber ein anderer Punkt ausschlaggebend: Gleich mehrere junge Leute, die sie kennen, werden in dem Mehrfamilienhaus wohnen. Das sei für die Zukunft der Gemeinde ein grosser Gewinn und trage auch zum intakten Vereinsleben bei. Embd hat in den letzten zwei Jahren die Trendwende geschafft: Die Gemeinde wächst wieder.
Dorfladen rund um die Uhr
Auch Dorfläden sind ein wichtiges Symbol für ein intaktes Dorfleben. Am Ende des Tages entscheiden jedoch die Zahlen und die sehen in Guttet-Feschel VS im Bezirk Leuk nicht rosig aus. «Der Laden hat in den letzten Jahren jeweils ein Minus von 10'000 bis 15'000 Franken eingefahren», erzählt Gemeindepräsident Philipp Loretan (35).
In Guttet-Feschel gibt es kaum Arbeitsplätze. Wenn die Leute nach der Arbeit nach Hause fahren, sind im Dorfladen bereits die Lichter aus. Hinzu kommen die vielen Zweitwohnungsbesitzer, die ebenfalls oft erst abends anreisen. Die Gemeinde musste sich deswegen etwas einfallen lassen und investierte rund 35'000 Franken in ein System, dank dem die Bewohner auch nach Ladenschluss einkaufen können – und das rund um die Uhr.
Die Bevölkerung stand der Idee am Anfang skeptisch gegenüber. «Auch ich», sagt Sonja Steiner (23), Filialleiterin des Konsums, zu Blick und lacht. «Inzwischen hat mich die Idee aber voll überzeugt.»
Der Plan geht auf: Anfang April eingeführt, zog der Umsatz im Laden um 25 Prozent an. Die 430 Einwohner und auch die Zweitwohnungsbesitzer haben mittlerweile über 130 Schlüsselkarten bestellt. «Und jede Woche kommen weitere hinzu», freut sich Gemeindepräsident Loretan.
Hält die Umsatzsteigerung an, scheint die Zukunft des Ladens gesichert und damit auch seine Funktion als wichtiger Treffpunkt im Dorf. «Der Dorfladen ist gerade auch für ältere Einwohner ein wichtiger Ort, an dem sie sich austauschen können», sagt Filialleiterin Sonja Steiner.
Ausgestorbener Dorfkern blüht auf
Einen ganz anderen Weg ging das Nachbardorf Albinen: Das Dorf trumpft mit seinem Postkartenidyll. Wie ein Netz spannen sich verwinkelte Gassen aus runden Pflastersteinen durch den Dorfkern mit seinen alten Holzhäusern.
Dem Gemeinderat wurde es in Albinen in den letzten Jahren jedoch zu idyllisch. Viele der alten Gebäude wurden nur noch sporadisch als Zweitwohnungen genutzt. Dadurch fehlten auch im Dorfladen und in den beiden Restaurants wichtige Einnahmen. Die Gemeinde reagierte und lancierte kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie die Albijou GmbH, ein Vermietungsservice, mit dem die Wohnungen mit Leben gefüllt werden sollen.
Michela Calanda-Mathieu (54) führt durch die Gassen und zeigt Blick eine der Wohnungen, ein umgebauter Stadel. Sie ist Teil der Geschäftsleitung von Albijou und hilft bei der Bewirtschaftung mit. Ein knappes Dutzend Eigentümer stellen derzeit ihre Wohnungen zur Verfügung und erhalten 60 Prozent der Mieteinnahmen.
«Das Konzept geht auf», sagt Calanda-Mathieu. Im ersten Jahr wurden 1070 Übernachtungen gebucht, im letzten dann 1040 und für das laufende Jahr bis anhin über 600 Übernachtungen. Calanda-Mathieu arbeitet auch im Dorfladen und sagt: «Ohne Gäste und Zweitwohnungsbesitzer könnte man hier keinen Dorfladen betreiben.»
Doch die Rahmenbedingungen für Albijou sind trotz zusätzlicher Vermietungen schwierig. «Wir suchen händeringend nach Putzkräften», so Calanda-Mathieu.
40 Minuten weniger Arbeitsweg
Die Gemeinde Ernen im Untergoms betreibt zur Erhöhung der Wohnattraktivität seit letztem Dezember einen Co-Working-Space im ehemaligen Schulhaus. «Die Bevölkerung und Gäste haben sich ein solches Angebot gewünscht», erzählt Gemeindepräsident Francesco Walter (61), als er Blick die Räumlichkeiten zeigt.
Das Angebot sei im Winter gut angelaufen. «An manchen Tagen haben die sechs Arbeitsplätze nicht ausgereicht», sagt Walter. In der aktuellen Zwischensaison ist es im Gebäude jedoch ruhig. Einzig Elena Macherhammer (35) arbeitet an einem der neuen Holzpulte. Die Angestellte des regionalen Landschaftsparks ist begeistert: «Ich kann meine Kinder zur Schule bringen und dann im Co-Working-Space arbeiten. Ansonsten würde ich pro Tag 40 Minuten länger im Auto sitzen.»