Luzi Schutz kam zurück – als Gemeindepräsident
Berggemeinden verlieren junge Einwohner an die Städte

Die Schweizer Bergregionen leiden seit Jahrzehnten unter Braindrain. Der Abwanderung von jungen Arbeitskräften in die Städte. Homeoffice und Remote Work verändern dieses Phänomen nun erstmals. Kehrt sich der Trend nun gar um, werden die Städte entvölkert?
Publiziert: 04.08.2021 um 06:41 Uhr
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Aktualisiert: 04.08.2021 um 11:13 Uhr
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Viele Schweizer Bergdörfer, im Bild Gspon VS, kämpfen mit Braindrain, der Abwanderung junger Leute.
Foto: AFP
Sarah Frattaroli

Welches ist die grösste Bündner Gemeinde ausserhalb des Kantons Graubünden? Die Stadt Zürich. Was in den Bündner Bergtälern als spöttischer Witz erzählt wird, hat einen ernsten Hintergrund: Graubünden verliert, wie auch andere Schweizer Bergkantone, einen entscheidenden Teil seiner Bevölkerung an die grossen Zentrumsstädte.

Braindrain heisst der Effekt. Wörtlich übersetzt: Gehirnabfluss. Prominente Beispiele für das Phänomen gibt es zahlreiche. Die ehemalige Miss Schweiz Nadine Vinzens (37) zum Beispiel stammt aus der Region Landquart GR, lebt aber in Zürich. Auch die Zürcher Regierungsrätin Carmen Walker Späh (63) war nicht immer Zürcherin. Sie kommt ursprünglich aus Altdorf im Kanton Uri. Oder der Erfolgsmusiker Marius Bear (28). Der Appenzeller lebt heute in Winterthur ZH und London.

Jeder zweite Appenzeller kehrt nicht zurück

Der Effekt ist statistisch belegbar. Jeder dritte Bündner kehrt gemäss Erhebungen des Bundesamts für Statistik (BFS) nach dem Studium nicht in seine Bergheimat zurück. Bei den Urnern sowie den Appenzellern ist es sogar jeder zweite.

Zürich oder Bern erhalten dank des Braindrains junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte. Die Bergkantone hingegen bezahlen für die teure Universitätsausbildung ihrer jungen Bevölkerung – und verlieren diese dann an die grossen Zentrumskantone. Damit gehen den Bergkantonen nicht nur Steuergelder flöten.

Sie verlieren auch wertvolle Fachkräfte. Das wiederum hält Unternehmen davon ab, Standorte im ländlichen Raum zu eröffnen. Und ohne Unternehmen gibt es kaum interessante Arbeitsmöglichkeiten. Und damit auch wenig Grund für die jungen Studierten, in die alte Heimat zurückzukehren. Ein Teufelskreis.

«Man hat hier wenige Perspektiven»

Erst im Pensionsalter kehren viele Abgewanderte in ihre Bergtäler zurück. Die Bergkantone kämpfen dadurch mit einer Überalterung. Ältere Bewohner bringen weniger Steuereinnahmen, sorgen aber für höhere Kosten wegen Alterswohnungen oder Pflegeheimen.

Von diesem Trend betroffen ist auch die kleine Bündner Gemeinde Bergün Filisur in der Albula-Region. Knapp 900 Menschen leben dort – Tendenz sinkend. Luzi Schutz, 32 Jahre alt und parteiloser Gemeindepräsident, gehörte einst selber zu den Abwanderern. Für die Kanti zog er nach Chur, fürs Studium später nach Zürich. Neun Jahre blieb er im Unterland.

Vor drei Jahren kehrte Luzi Schutz zurück in sein Heimatdorf und übernahm dort das Gemeindepräsidium. Dafür, dass seine Altersgenossen zuhauf im Unterland leben, hat Schutz Verständnis: «Je nachdem, wie man sich beruflich orientieren will, hat man hier wenige Perspektiven.» Wer nicht Hotelbetreiber, Landwirt oder eben Gemeindepräsident ist, ist praktisch gezwungen, wegzuziehen.

Albinen lockt Zuzüger mit Geldprämie

Was tun? Die abgelegene Walliser Berggemeinde Albinen sorgte vor wenigen Jahren mit ihrer Herangehensweise international für Schlagzeilen: Neuzuzüger erhalten dort 25'000 Franken geschenkt.

Brigitte Küng (41) von der Denkfabrik Wirtschaftsforum Graubünden beschäftigt sich seit Jahren mit dem Braindrain. Sie sieht Aktionen wie jene aus Albinen VS skeptisch. «Das mag im Einzelfall funktionieren. Aber es ist kein Patentrezept. Was es wirklich braucht, sind ganz viele verschiedene Massnahmen. Eine bessere externe Kinderbetreuung zum Beispiel oder mehr Digitalisierung.»

Denn die Internet-Infrastruktur in den Bergregionen ist nach wie vor mangelhaft. «In diesem Bereich müssen wir jetzt wirklich Gas geben!», fordert Küng. Denn die Corona-Pandemie gibt den Berggebieten plötzlich neue Hoffnung.

Digitale Nomaden als Chance

«Die grossen Firmen in Zürich sprechen davon, Büroflächen abzubauen. Homeoffice gehört zum Alltag. Damit wird ein neues Lebensmodell möglich.» Will heissen: Der Arbeitgeber sitzt weiterhin im Unterland, der Arbeitnehmer aber im Berggebiet. Damit wandert zwar nicht der Arbeitsplatz selber ins abgelegene Bergtal ab. Aber immerhin der Mensch, der dort Steuern zahlt, einkauft und ins Restaurant geht.

Küng bleibt aber vorsichtig: «Eine Lawine von Neuzuzügern wird es sicher nicht geben.» Auch Luzi Schutz aus Bergün Filisur dämpft den Optimismus. Der Knackpunkt liegt in seinen Augen beim Wohnraum. Denn die Bevölkerung in abgelegenen Bergdörfern schrumpft zwar. Die Wohnungspreise vor allem in touristischen Regionen aber steigen.

«Ich kenne junge Familien, die zurückkommen wollen, aber Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden», erzählt Schutz. Das Problem hat sich seit Corona gar noch verschärft. Zweitwohnungen sind gefragter denn je.

Exil-Bündner mit Heimweh nach den Bergen

Trotzdem hofft er, dass das Heimweh nach den Bergen am Schluss gewinnt. «Für mich persönlich war es eine spannende Zeit in Zürich. Aber irgendwann kam der Punkt, wo ich fand: Ich habs jetzt gesehen. Das ist bei vielen so.»

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