Seit er ein kleiner Bub war, schnitt Hildebert Zimmermann (73) jeden Herbst die reifen Trauben. Keine einzige Ernte hat er verpasst. Und auch an diesem Samstagmorgen Mitte Oktober steht er, den alle Hill nennen, in seinem Rebberg in Visperterminen, einem Dorf oberhalb von Visp.
Fast seine ganze Familie ist mit dabei beim Wimdu, dem Weinlesen, die Jüngste ist fünf Jahre alt. Etwa so alt war auch Hill, als er zum ersten Mal die Trauben schnitt. Später lernte er in der Schule seine Myriam (70) kennen, nächstes Jahr feiern sie goldene Hochzeit.
Die beiden sind hier geboren. Und eines Tages, da möchten sie hier sterben.
So wie das Ehepaar Zimmermann leben zwei Drittel der 1328 Einwohner von Visperterminen seit ihrer Geburt in der Gemeinde. Weggezogen sind sie nie. In der schweizweiten Statistik, die den Anteil der Sesshaften an der totalen Einwohnerzahl misst (siehe Grafik unten), befinden sich unter den ersten 30 Gemeinden 21 aus dem Oberwallis. In diese Orte ziehen wenig Menschen hin und genug wenig weg, damit die Dörfer weiterbestehen. Kurz: Nirgendwo bleiben die Einheimischen häufiger unter sich. Was macht das mit dem Zusammenleben? Und was hält die Menschen in ihrer Heimat?
Die statistische Auswertung zeigt, wie viel Prozent der Einwohner einer Gemeinde seit Geburt dort leben. Die Nichtsesshaften sind entweder Neuzuzüger oder solche, die weg- und wieder zurückgezogen sind. Spitzenreiter mit Einwohnern, die unter sich bleiben, ist das kleine Walliser Dorf Bister mit 79 Prozent. Zum Vergleich: In den Grossstädten Zürich leben 21 Prozent, in Basel 24 Prozent und Bern 19 Prozent Menschen, die nie weggezogen sind. In Genf sind es 15 und in Lausanne 19 Prozent. Ein hoher Prozentsatz kann entstehen, wenn kaum neue Menschen in eine Gemeinde zuziehen – unabhängig davon, wie viele wegziehen. Die Statistik berücksichtigt Gemeindefusionen nicht, deshalb weisen zum Beispiel Orte im Kanton Glarus tiefe Werte auf.
Die statistische Auswertung zeigt, wie viel Prozent der Einwohner einer Gemeinde seit Geburt dort leben. Die Nichtsesshaften sind entweder Neuzuzüger oder solche, die weg- und wieder zurückgezogen sind. Spitzenreiter mit Einwohnern, die unter sich bleiben, ist das kleine Walliser Dorf Bister mit 79 Prozent. Zum Vergleich: In den Grossstädten Zürich leben 21 Prozent, in Basel 24 Prozent und Bern 19 Prozent Menschen, die nie weggezogen sind. In Genf sind es 15 und in Lausanne 19 Prozent. Ein hoher Prozentsatz kann entstehen, wenn kaum neue Menschen in eine Gemeinde zuziehen – unabhängig davon, wie viele wegziehen. Die Statistik berücksichtigt Gemeindefusionen nicht, deshalb weisen zum Beispiel Orte im Kanton Glarus tiefe Werte auf.
Visperterminen ist der erste grössere Ort an der Spitze der Statistik. Anders als in anderen Bergdörfern ist Abwanderung hier kein grosses Problem. Die Einwohnerzahl ist seit zwanzig Jahren stabil.
Damit haben auch die Rebberge zu tun. Die Weinlese gehört nebst Fronleichnam zu den wichtigsten Anlässen des Jahres. Viele Familien in Visperterminen besitzen Parzellen an den Hängen, von klein auf sind die Kinder eingebunden. Auch Hills Enkel Levin Studer (13) packt mit an und schleppt volle Rebenkisten mit einer motorisierten Schubkarre den Hügel hoch. «Ich mache das gerne, ich bin ja damit aufgewachsen», sagt er.
«Hier ist Unkraut», sagt Grossmutter Myriam Zimmermann und zeigt zu den Rebstöcken nebenan. Hill erklärt, sie gehörten einer Familie mit jungen Eltern, er habe ihnen auch schon gesagt, sie sollten sich besser darum kümmern. Aus Angst, dass Mehltau zu seinen Pflanzen rüberkommt, spritze er die erste Reihe der Nachbarn jeweils auch.
«Es kann schon sein, dass die Jungen etwas weniger Lust haben, eines Tages die Reben zu übernehmen», sagt Hill. «Nein, nein, das stimmt nicht», entgegnet Yvan Studer (48), sein Schwiegersohn. Klar, finanziell lohne sich die Weinlese nicht, sagt er. Doch die Reben, das sei eben Patriotismus. «Selbstverständlich machen wir weiter.» Tradition und Heimat verpflichten.
Studer, ein Verkäufer von Baumaterial, nimmt für die Ernte jeweils Ferien. Stolz erzählt er vom Heida-Wein, einer Walliser Rarität, mit der Visperterminen gross Werbung macht. Studer leitet den lokalen Tourismusverein und ist im Verwaltungsrat der Bergbahnen. Alles ehrenamtlich. Das Dorf lebt davon, dass die Menschen fürs Dorf leben.
Umgeben von einer Bergkulisse tauchen die ersten Sonnenstrahlen die Rebenblätter in goldenes Licht. «Wieso sollten wir hier wegziehen?», fragt Studer. Sie leben in einer Idylle wie in einem Tourismusmagazin. Im Sommer können sie direkt vor der Haustür wandern, im Winter Ski fahren.
Die Kellerei
Später, gegen 11 Uhr, als alle Kisten voll sind, stossen sie mit Bier und Weisswein an. Danach gehen sie leschu, die Reben abgeben bei der Kellerei. Eine lange Schlange von Lastern und Autos wartet bereits. Die Menschen helfen sich gegenseitig beim Ausladen, schwatzen, füllen sich ein Gläschen aus dem Fass. Jeder kennt hier jeden, weiss, in welchem Jahrgang in der Schule er war.
Die soziale Struktur ist in Visperterminen nach Jahrgängen organisiert. Jedes Jahr an Fronleichnam bauen die 20-Jährigen die Altäre auf. Es gibt alljährliche Jahrgangstreffen, und zwischen Weihnachten und Neujahr fahren die Jugendlichen mit ihren gleichaltrigen Kollegen in eine Berghütte. Auf die Frage, wie alt jemand ist, antworten hier deshalb viele mit dem Jahrgang.
Auch das Jahr 1979 erwähnt Yvan Studer mehrmals. Damals wurde die St. Jodern Kellerei gegründet, die pro Jahr rund 400'000 Flaschen produziert und den Heida-Wein vermarktet. Sie ist eine Genossenschaft, wie es viele davon gibt in Visperterminen. Der Gemeinschaftsgedanke durchtränkt das Dorf. So auch in der Politik.
Visperterminen hat ein Majorzwahlsystem ohne Parteien. Vor der Wahl kursieren sogenannte wilde Listen, auf denen Einwohner Namen von Kandidaten schreiben, die sie für geeignet halten. Davon können die Wähler ihre Favoriten aussuchen. «Man kennt einander und weiss, wer zu was fähig ist», sagt Studer.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb Visperterminen bei gesellschaftspolitischen Fragen oft weitaus liberaler abstimmt als der Walliser Durchschnitt. 68 Prozent nahmen die «Ehe für alle» an, das Verhüllungsverbot wurde knapp abgelehnt, ebenso die Masseneinwanderung mit 59 Prozent Nein-Stimmen.
Die Ziegenschau
Einige Strassenkurven oberhalb der Kellerei findet Renzo Stoffel (17), die Reben seien nicht so sein Ding. Tiere mag er lieber. «Es kommt halt darauf an, wie man aufgewachsen ist», sagt er. Stoffel hilft gerade seinem Vater, Ziegen auf eine Wiese in der Dorfmitte zu bringen. An diesem Samstag findet die alljährliche Ziegenschau statt, an der Richter dann ihre Punkte vergeben.
Stoffels Eltern sind beide aus Visperterminen, beide nie weggezogen, und auch er möchte bleiben. «Mir geht es hier wunderbar», sagt er. Die Lehre absolviert er bei der Lonza in Visp, einem der grössten Arbeitgeber in der Region und der zurzeit Tausende neue Arbeiter aus der ganzen Welt ins Wallis holt. Stoffel spricht gern mit ihnen, er mag Englisch. «Es ist spannend, dass neue Menschen kommen, die über anderes reden», sagt er.
Selber war er noch nie im Ausland. Einmal in der Sekundarschule in Visp musste er auf einem Blatt einzeichnen, welche Länder er schon bereist hatte, erinnert sich Stoffel. Er füllte die Schweiz aus und gab das Blatt ab. Der Lehrer fragte ihn, ob er die Aufgabe nicht verstanden habe.
Seine Eltern hätten ihm angeboten, nach Italien ans Meer zu fahren, sagt er, aber die eigene Alphütte im Nanztal, auch im Wallis, gefalle ihm gut. «Dort kann ich wirklich entspannen. Dort kann ich einfach sein.» Obwohl, in der letzten Zeit denke er sich manchmal, dass es noch interessant wäre, mal eine andere Kultur kennenzulernen.
Ein «Üsserschwiizer» unter Einheimischen
Das Oberwallis ist abgetrennt von der restlichen Schweiz, nur erreichbar über hohe Pässe oder durch lange Tunnels. Die Menschen definieren sich seit je über die Abgrenzung. Lange Zeit war ihr Leben geprägt von Armut. Vieh, Wiesen und Wälder waren begrenzt, was für die bäuerliche Gesellschaft bedeutete, die Anzahl der Nutzer zu beschränken. Man heiratete im gleichen Dorf und lehnte fremde Menschen ab.
Zumindest logistisch ist das Wallis mittlerweile weniger abgeschieden. Seit 2007 der Lötschbergtunnel eröffnet wurde, dauert die Zugfahrt von Visp bis Bern nur noch eine Stunde. In Domodossola ist man in 40 Minuten.
Doch in den Köpfen grenzen sich die Oberwalliser immer noch ab: gegen den Süden vom französischsprachigen Unterwallis, mit dem sie ausser der Liebe zum FC Sion wenig verbindet, und gegen den Norden von der Deutschschweiz, deren Bewohner sie mit abschätzigem Unterton «Üsserschwiizer» oder «Grüezi» nennen.
Sven Schanzenbächer (21) ist einer, der sich als «Grüezi» trotz allen Vorurteilen gut eingelebt hat im Oberwallis. Er ist in Zürich-Oerlikon aufgewachsen, doch im Chalet der Eltern im Gomser Dorf Bellwald fühlte er sich immer schon wohler als in der unpersönlichen Grossstadt. Er absolvierte in Bellwald die Lehre zum Seilbahnmechatroniker, nun arbeitet er seit über einem Jahr bei den Bergbahnen in Visperterminen.
«Die Walliser kommen nicht auf dich zu. Aber wenn du den ersten Schritt machst, dann sind sie schon offen», sagt er. Schanzenbächer spricht nun Walliserdeutsch. Er habe grundsätzlich weniger Diskussionen, wenn die Leute nicht bemerkten, dass er kein Einheimischer sei. Im Wallis geniesse er die Ruhe, mache sehr gerne Sport. Und alle paar Wochen sei er froh, dass er weggehen könne. Zurück nach Zürich für ein Wochenende, wo ihn auf den Strassen niemand kenne und wo er über andere Themen rede.
Fussball und Freunde
Die Vereinskultur blüht im Oberwallis, in Visperterminen alleine gibt es 34 Vereine. Sie sind wichtig für den sozialen Zusammenhalt. Gerade machen sich Renzo Stoffel und seine Kollegen auf zum Fussballplatz in Eischoll, eine gute halbe Stunde Autofahrt. Sie spielen den letzten Match der Bergdorf-Meisterschaft vor der Winterpause. Sogar kleine Dörfer stellen ein eigenes Team zusammen.
Am Spielfeldrand sitzt eine Gruppe junger Menschen, die extra aus Visperterminen hergefahren sind. Drei von ihnen sind Alicia Burgener, Joëlle Zimmermann und Florence Gottsponer, alle 23 Jahre alt, alle mit Eltern aus Visperterminen. Eine aus ihrer Klasse sei weggezogen nach Winterthur, erzählt Gottsponer. «Sie ist der Typ Stadt, sie habe immer gesagt, sie wolle weg.»
Auch Florence Gottsponer wollte nach der Lehre in einem Altersheim in Visp weg, etwas Neues sehen, wie sie sagt. Sie zog nach Bern. Eigentlich gefällt ihr die Stadt, doch sie pendelt jedes Wochenende zurück ins Wallis. Sie habe alle ihre Kollegen hier, sagt sie, ihre Hobbys, die Familie. Vielleicht habe sie Bern nicht so eine Chance gegeben, sagt sie. Sie wolle nun wieder zurück nach Visperterminen. Auch Alicia Burgener, die in Bern an der höheren Fachschule Pflege studierte, zog zurück. Sie seien halt «Heimchüelini», sagt sie.
So viel Nähe und Zusammenhalt hat auch einen Preis. Spricht man mit Oberwallisern, die ganz weggezogen sind, kritisieren sie ihre Heimat als engstirnig, hinterwäldlerisch und einengend. Auch viele in Visperterminen sagen irgendwann im Gespräch, die soziale Nähe sei manchmal mühsam, Privatsphäre fehle. Man weiss voneinander, wer welchen Skidress trägt, wer geimpft ist und wer mal wen geküsst hat. «In unserem Dorf wird schon viel geredet, die Leute wollen immer alles wissen», sagt Joëlle Zimmermann. Burgener entgegnet: «Aber wir selbst sind auch neugierig.»
Vielleicht arrangieren sich die, die bleiben; und wem es zu eng wird, der muss gehen. Kritiker dürften es schwer haben in einem Dorf, deren System darauf basiert, dass es alle mittragen. Für die Menschen, die bleiben, ist das Dorf wie eine Familie. Sie ist immer da, wenn man sie braucht. Auf sie ist Verlass. Aber leider ist sie auch immer da.
Als die Fussballer von Visperterminen nach dem Match enttäuscht vom Platz gehen – sie haben 1:2 verloren –, ruft ihnen Florence Gottsponer zu: «Gut gespielt, Jungs!» Die jungen Frauen fahren im Auto zurück, die Strassen sind dunkel und kurvig, dann plötzlich leuchtet unten im Tal Visp. Beim Bahnhof parkieren sie das Auto. «Burrito oder Thai?», fragt Gottsponer ihre Freundinnen.
Später feiern sie dicht gedrängt in einem Keller eines alten Hauses in Visperterminen. Jungs in wallenden schwarzen Röcken der Guggenmusik, andere in den dicken Pullis, die sie als Zuschauer beim Fussballmatch trugen. Herausputzen müssen sie sich nicht, man lässt sich hier so sein, wie man ist – solange man sich innerhalb eines bestimmten Rahmens bewegt, den zwar niemand genau definieren kann, aber alle ganz genau kennen.
Wer in Visperterminen lebt, kann sich sicher sein, dass er hier dazugehört. Zu einem Jahrgang, zu einer Gemeinschaft, zu Vereinen, zum Dorf. Das ist viel Klarheit in einer Welt, die ansonsten oft sehr unklar ist.
Mitarbeit: Rahel Zimmermann, Walliser Bote
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