10 Jahre Direktorin von Economiesuisse
Die leise Stimme der Wirtschaft

Monika Rühl ist die Tochter eines Saisonniers. Dennoch hat sie es nicht geschafft, die Wirtschaft wieder bodenständiger und volksnaher zu machen. Droht ihr bei einem Nein zur BVG-Reform das Aus? Eine Begegnung im Tram – mitten im Volk.
Publiziert: 01.09.2024 um 16:31 Uhr
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«Kennen Sie diese Frau?», fragte Blick, als Rühl 2014 zur Economiesuisse-Direktorin gekürt wurde. Zehn Jahre später würden die meisten Schweizerinnen und Schweizer noch immer mit Nein antworten.
Foto: Zvg

Auf einen Blick

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Thomas SchlittlerWirtschaftsredaktor

In den meisten Ländern würde die Chefin des wichtigsten Wirtschaftsverbandes in einer Limousine vorfahren. Monika Rühl (61) kommt zu Fuss zum Treffen mit Blick.

Vereinbart ist eine Tramfahrt durch Zürich. Rühl soll Bilanz ziehen über zehn Jahre Economiesuisse. Umgeben vom Volk, das die Wirtschaft – so sind sich Politbeobachter einig – längst verloren hat.

Am 1. September 2014 brach die ehemalige Spitzendiplomatin zu einer Mission auf, die sie damals wie folgt formulierte: Economiesuisse soll «bodenständiger, glaubwürdiger und volksnaher» werden.

Hat sie das geschafft? Nein, sagt Rühl selbstkritisch: «Das ist eine Daueraufgabe. Es wäre übertrieben, zu sagen, dass es mir gelungen ist, das Image der Wirtschaft und unseres Verbands grundlegend zu verändern.»

Sie will es allen recht machen

Die Rückeroberung der Sympathien gestaltet sich schwierig. Diese Woche zeigte sich einmal mehr, warum das so ist: Die Gewerkschaft Unia rechnete vor, dass die Spitzenverdiener in Schweizer Konzernen 2023 im Schnitt 143-mal so viel Lohn erhielten wie ihre Kollegen am unteren Ende der Lohnskala.

«Ich kann verstehen, dass die Leute kein Verständnis haben für solche Löhne», sagt Rühl. Auf die Frage von Blick, was sie selbst von solchen Salären hält, weicht sie aus: «Es ist Sache der Unternehmen und ihrer Aktionäre, die Löhne festzulegen. Ich kann nachvollziehen, wie sie zustande kommen. Der globale Wettbewerb um die besten Führungskräfte spielt hier eine wichtige Rolle.»

Die Antwort ist typisch Rühl: Die Art und Weise, wie sie ihre Worte wählt, lassen zwar vermuten, dass sie es stossend findet, wenn der Novartis-CEO 16,2 Millionen Franken abkassiert. Als «Abzocker» würde sie Vasant Narasimhan (48) aber nie bezeichnen.

Economiesuisse vertritt 100 Branchenverbände und damit rund 100'000 Unternehmen aus allen Industrien und Regionen der Schweiz. Die Direktorin scheint darauf bedacht, es sämtlichen Mitgliedern recht zu machen.

Die bewusste Provokation, mit der die Badrans, Maillards, Martullos, Pfisters und Wermuths sich und ihren Anliegen Gehör verschaffen, ist Rühl fremd.

«Ich bin keine Rampensau»

In zehn Jahren als Economiesuisse-Chefin hielt sie sich nur einmal nicht ans Protokoll: 2020 bezeichnete sie Hans-Ulrich Bigler (66), langjähriger Gewerbeverbandsdirektor und notorischer Polteri, als «Hypothek für das Gewerbe». Zuvor hatte Bigler Economiesuisse Abgehobenheit vorgeworfen.

Die Medien nahmen den «Krach» unter den Wirtschaftsverbänden gerne auf. Doch trotz der medialen Aufmerksamkeit blieb der öffentliche Gefühlsausbruch von Rühl eine Ausnahme. Seither gilt wieder: immer bedacht. Stets fundiert. Selten überraschend. 

Auch in den sozialen Medien ist die Economiesuisse-Chefin keine Stimme, die wahrgenommen wird. Auf den meisten Kanälen ist sie nicht einmal präsent.

Auftritte in der «Schweizer Illustrierten» oder einem Dok-Film des Schweizer Fernsehens – für Politikerinnen und Wirtschaftsführer beliebte Schaufenster, um sich von einer menschlichen Seite zu zeigen – sucht man ebenfalls vergeblich.

«Ich bin keine Rampensau», erklärt sie bei einem Zwischenhalt am Bahnhof Zürich. Zudem sei es ihr wichtig, Privates und Geschäftliches strikt voneinander zu trennen.

Das Ergebnis dieser Zurückhaltung: Auf der einstündigen Tramfahrt durch Zürich wird die höchste Vertreterin der Schweizer Wirtschaft kein einziges Mal angesprochen. Kein Lob. Keine Kritik. Kein Grüezi.

Beeindruckende Beamten-Karriere

«Kennen Sie diese Frau?», fragte Blick, als Rühl 2014 zur Economiesuisse-Direktorin gekürt wurde. Zehn Jahre später würden die meisten Schweizerinnen und Schweizer noch immer mit Nein antworten.

Dabei wäre es lohnenswert, die Person Rühl und ihre Geschichte kennenzulernen. Zwar hat sie keine Erfahrung als Unternehmerin vorzuweisen, was einige Wirtschaftsvertreter als Schwachpunkt sehen.

Dafür hat sie eine beeindruckende Karriere als Beamtin und Spitzendiplomatin hingelegt: Botschaftsrätin bei der Uno in New York (USA). Persönliche Mitarbeiterin des ehemaligen Bundesrats Joseph Deiss (78). Leiterin des Bereichs bilaterale Wirtschaftsbeziehungen im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Stabschefin von Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (72).

Geschenkt wurde ihr diese Laufbahn nicht: Rühl wuchs in Uster im Zürcher Oberland auf. Die Mutter Kindergärtnerin, der Vater Saisonnier aus Deutschland, der als Koch in die Schweiz gekommen war. «Ich weiss, dass Geld zuerst verdient werden muss.»

Das EWR-Nein in Brüssel

In ihrer Jugend tanzt sie 15 Jahre lang Ballett, fast täglich. Doch die Aufnahmeprüfung für eine Ballettschule in England geht schief. Schliesslich studiert sie Geschichte der italienischen und französischen Sprache und Literatur an der Uni Zürich.

Am 1. Dezember 1992, im Alter von 29 Jahren, fängt Rühl als Stagiaire bei der Schweizer Vertretung in Brüssel an. Fünf Tage später bekommt sie ein politisches Erdbeben hautnah mit: das Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). 

Am 9. Februar 2014 erlebt die Polit- und Wirtschaftselite einen ähnlichen Schock: das Ja zur «Masseneinwanderungs-Initiative». Für Economiesuisse war es nach Annahme der «Abzocker-Initiative» das zweite Debakel innert weniger Monate. 

Kurz darauf wird Rühl als neue Direktorin vorgestellt. Sie soll helfen, dass die Schweizerinnen und Schweizer einem alten Credo wieder Glauben schenken: «Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für uns.»

Gelungen ist das nicht. Immerhin: Rühl bringt wieder Ruhe in den Verband. Zudem geht in ihrer Amtszeit keine einzige Europa-Abstimmung verloren. «Das sehe ich als meinen wichtigsten Erfolg.»

«Ich spüre keinen Druck»

Doch nun droht ein erneutes Doppeldebakel: Nach Annahme der 13. AHV-Rente («Wir haben die Sensibilität dieses Themas komplett unterschätzt») könnte es auch bei der Reform über die berufliche Vorsorge (BVG) eine Niederlage absetzen.

«Es wird eng und kann auf beide Seiten kippen», so Rühls Prognose. Dass bei einem Nein ihr Stuhl «wackelt», wie die Weltwoche kürzlich berichtete, glaubt sie jedoch nicht: «Ich spüre keinen Druck – zumal bei der BVG-Reform der Arbeitgeberverband im Lead ist.»

Rühl hat nicht vor, ihren Chefposten bei Economiesuisse in absehbarer Zeit abzugeben. Im Gegenteil: «Ich kann mir gut vorstellen, in diesem Job pensioniert zu werden.»

Regulärer Termin dafür wäre im Oktober 2028, wie sie weiss, im Alter von 64 Jahren und 9 Monaten. Zumindest was ihr eigenes Rentendossier betrifft, scheint Monika Rühl vor bösen Überraschungen gefeit.

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