Kein Winter im Mittelland
Das bedeutet schneefreier Winter für uns und die Natur

Kein Weiss im Flachland. Der Winter ist bisher keiner – insbesondere in jenen Regionen, wo die meisten Menschen leben. Was der Schneemangel nebst ausbleibenden Schneeballschlachten und Schlittenrennen für uns und das Ökosystem sonst noch bedeutet. Experten antworten.
Publiziert: 22.02.2020 um 14:28 Uhr
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Aktualisiert: 13.06.2020 um 19:07 Uhr
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Für aasfressende Tiere wie den Kolkraben sind warme Winter gefährlich – weil weniger Tiere verenden.
Foto: blickwinkel
Silvia Tschui

Leise rieselt … nichts. Der Winter ist eigentlich eine Zeit der Besinnlichkeit – wer liebt nicht die heimelige Ruhe, wenn sich eine frisch reinweisse Schneedecke über Häuser, Bäume und Strassen gelegt hat und viele der alltäglichen Laute schluckt? Wer freut sich nicht am Glitzern und Funkeln, wenn die Sonne wieder durch Schneewolken bricht und die Welt aussieht, als wäre sie verzaubert und verzuckert?

Jetzt, Mitte Februar, wäre es eigentlich an der Zeit, den Schnee langsam zum Teufel zu wünschen und sehnlichst die Sonne und Frühling zu erwarten. Nur gab es im Mittelland dieses Jahres in den tieferen Lagen gar keine Schneedecke. Stattdessen fühlt es sich hier unten an, als wäre seit drei Monaten Ende November. Etwas fehlt. Und statt leisen Schneeflocken haben wir Wirbelstürme wie Sabine, die Bäume entwurzeln.

Stellt sich die Frage: Ist das die neue Normalität? Und was bedeutet sie für Mensch und Natur?

Gibt es im Mittelland jetzt keinen Schnee mehr?

Christoph Marty, Klimatologe vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung: «Es hat bereits in der Vergangenheit ähnliche schneearme Winter im Mittelland gegeben, z.B. 1989/1990. Die Anzahl solcher sehr schneearmer Winter hat im Mittelland zugenommen und wird aufgrund der weiteren Erwärmung weiter zunehmen. Die natürliche Variabilität des Klimas wird aber dafür sorgen, dass wir auch in Zukunft noch einzelne schneereichere Winter im Mittelland erleben werden. Die Wahrscheinlichkeit dafür nimmt aber klar ab, je weiter wir in die Zukunft schauen.»

Was geschieht in den Böden, wenn kein Schnee mehr liegt?

Beat Frey, Bodenmikrobiologe am WSL: «Eine Schneedecke über Wochen hält die Temperatur im Boden konstant um den Gefrierpunkt. Dabei sind die Mikroorganismen nur wenig aktiv, die im Boden für den Abbau von organischem Material wie Laub oder Wurzeln verantwortlich sind. Diese Mikroorganismen benötigen für diesen Abbau Sauerstoff und produzieren CO2. Verkürzt sich diese Ruhephase durch höhere Temperaturen oder fehlenden Schnee im Winter, stossen die Böden mehr CO2 aus. Sind die Böden verdichtet, ist dies noch schlimmer: Dann laufen sogenannte anaerobe Prozesse ab, also ein Abbau ohne Sauerstoff, und das Endresultat ist Methan – ein noch schlimmerer Treiber der Erderwärmung als CO2. Zum Glück sind aber nur wenige Böden im Mittelland stark verdichtet. Der fehlende Schnee hat auch eine Auswirkung auf die Bodenerosion: Eine Schneedecke taut langsam auf. Der Boden kann das so entstehende Wasser gut aufnehmen – was wiederum dem Grundwasserspiegel zugute kommt. Regen, insbesondere starker, neigt dazu, dass Böden ohne Bewuchs verschlämmen und Bodenmaterial zusammen mit wichtigen Nährstoffen oberflächlich abfliesst.»

Was bedeutet es für die Landwirtschaft, wenn kein Schnee fällt?

Sandra Helfenstein, Mediensprecherin vom Bauernverband: «Ob Schnee oder kein Schnee ist weniger die Frage als die ausbleibende Kälte. Der warme Winter bringt zwei Herausforderungen mit sich. Erstens: Schädlinge inklusive Mäuse und Pilzkrankheiten wurden bis jetzt aufgrund der praktisch fehlenden Fröste kaum dezimiert. Zweitens: Die Vegetation entwickelt sich zu schnell. Später auftretende Fröste können so zu grossen Schäden führen. Beides, gemeinsam mit der sinkenden Anzahl an verfügbaren Pflanzenschutzmitteln, kann je nach Witterung während der Vegetationszeit dazu führen, dass es nächsten Sommer schwierig werden könnte, die Ernten und deren Qualitäten zu sichern. Für eine diesbezügliche Prognose ist es aber zu früh. Zudem war der Winter bisher auch eher trocken, sodass sich die Grundwasserbestände nach den zwei trockenen Sommern nicht vollständig erholen konnten.»

Wie geht es dem Wald ohne Schnee?

Andreas Rigling, Leiter Forschungseinheit Walddynamik am WSL: «Für den Wald im Mittelland ist es vor allem wichtig, dass sich die Böden im Verlaufe des Winters wieder mit Wasser sättigen können, also die Wasservorräte wieder aufgefüllt werden – ob es nun mittels Schnee (der ja dann schmilzt) oder direkt durch Regen passiert, spielt an sich keine Rolle. Neben dem Niederschlag spielen aber auch die Temperaturbedingungen eine wichtige Rolle: Der bis anhin deutlich zu warme Winter dürfte dazu führen, dass die Vegetation zu früh wieder aktiv wird, was sie dann anfälliger macht gegenüber Spätfrösten im Frühjahr. Zudem können diese warmen Verhältnisse auch günstig für Schädlinge sein, die normalerweise bei tiefen Minustemperaturen stark geschwächt werden können – somit könnten diese warmen Bedingungen dazu führen, dass die Schädlingssituation im kommenden Frühjahr und Sommer kritisch werden könnte.»

Nützt es Wildtieren im Flachland, wenn kein Schnee liegt?

Kurt Bollmann, Wildtierspezialist am Institut für Biodiversität und Artenerhaltung: «Einige Arten profitieren, andere haben Nachteile. Winteraktive Tiere wie Rehe, Hirsche und Gämsen haben klar einen Vorteil, wenn kein oder wenig Schnee liegt. Sie kommen so besser zur Pflanzennahrung. Benachteiligt sind dadurch die Aasfresser, die auf verhungerte Tiere, sogenanntes Fallwild, angewiesen sind – dazu gehören etwa Kolkraben, Bussarde, Milane oder Füchse. Warmblüter, die Winterschlaf halten, wie etwa Fledermäuse, können bei milden Temperaturen zu früh aufwachen – wenn dann ein später Kälteeinbruch folgt, haben sie das Problem, dass nicht genügend Insektennahrung vorhanden ist.»

Werden wir im Sommer jetzt eine Mückenplage haben?

Doris Hölling, Entomologin am WSL: «Nein – ob die Winter wärmer oder kälter sind oder ob eine Schneedecke liegt, ist den Stechmücken relativ egal. Ihre Population wird davon beeinflusst, wie die Bedingungen sind, wenn sie im Frühling schlüpfen. Für andere Insekten kann der zu warme Winter allerdings fatal sein. Sie verpilzen im Ruhezustand, wenn es zu warm und zu nass ist. Schlimm ist auch, wenn es nach verhältnismässigen Wärmephasen wieder zu Kälteeinbrüchen kommt: Dann kann sich das Tier nicht schnell genug anpassen und erfriert, oder es hat durch die kurze Aktivitätsphase seine Energie aufgebraucht, die nötig wäre, um die erneute Kälteperiode zu überleben.»

Und wie geht es in warmen Wintern den Amphibien?

Benedikt Schmidt, Biologe und Mitarbeiter der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz in der Schweiz: «Frösche, Kröten und andere Amphibien verkriechen sich über den Winter im Boden. Wenn keine schützende Schneedecke liegt, schwanken dort die Temperaturen stark. Die Tiere erfrieren dann häufiger. Aber auch zu viel Wärme ist nicht gut: Wenn die Körpertemperatur der Kaltblüter steigt, werden sie früher aktiv, brauchen Energie und finden aber nichts zu fressen.»

Hören Vögel jetzt auf, in den Süden zu ziehen?

Livio Rey, Biologe von der Vogelwarte Sempach: «Ja, einige Arten wie Weissstorch, Rotmilan und Ringeltaube überwintern zunehmend hier. Es kommen aber auch weniger Wasservögel zu uns, weil die Seen in Nordeuropa und Russland zunehmend eisfrei bleiben. Für Arten, welche die Winter sowieso hier verbringen, ist es nicht schlecht, wenn das Mittelland schneefrei bleibt – sie finden so mehr Nahrung. Allerdings geraten kälteangepasste Vögel zunehmend unter Druck. So etwa das Alpenschneehuhn oder der Schneesperling. Ein Grossteil ihrer europäischen Population brütet in den Alpen. Die Schweiz hat also eine hohe internationale Verantwortung, damit sie in Europa überleben können.»

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