Kurz vor Mitternacht verliert Dominik Peter (22) die Kontrolle. Der Skispringer stürmt in die Küche, verdrückt ein halbes Kilo Teigwaren und drei Riegel. «Ich stopfte alles, was ich finden konnte, in mich hinein.» Davor spielte das Gehirn des Drittplatzierten der Junioren-WM 2021 verrückt. «Sobald ich die Augen schloss, sah ich nur Pizzen, Spaghetti oder Süssigkeiten.»
Eine Fressattacke – einmal mehr. Und das am Abend vor der Abreise an die WM 2023 nach Slowenien. «Am anderen Morgen fühlte ich mich katastrophal.» Wenig überraschend verpasst der Zürcher die Qualifikation für das Springen auf der kleinen Schanze. Zurück im Hotel erleidet er einen Nervenzusammenbruch. «Ich sass auf meinem Bett und wusste nicht mehr weiter.»
Oft nur eine Mahlzeit am Tag
Seither ist ein Jahr vergangen. Peter hat keine Wettkämpfe mehr bestritten. Die einzige offizielle Meldung diesen Winter über ihn kommt im Oktober und lautet, dass er wegen Essstörungen eine Auszeit vom Spitzensport nimmt und auf die Saison 2023/24 verzichtet. Jetzt redet er mit Blick erstmals darüber und macht klar: Eine Rückkehr auf die Schanzen wird es nicht geben, der Olympionike von Peking 2022 tritt zurück.
Peter nimmt am Esstisch in seiner Wohnung in Einsiedeln SZ Platz. Er wirkt gesund, wiegt 70 Kilogramm und damit rund zehn Kilo mehr als zu seiner Aktivzeit. «Mir geht es sehr gut. Ich fühle mich wieder wohl in meinem Körper.» Über die Essstörung sagt er: «Ich ging jahrelang hungrig ins Bett.»
Warnsignal am Morgen früh
Wie entscheidend das Gewicht im Skispringen ist, realisierte Peter bereits als 14-Jähriger. An internationalen Wettkämpfen beobachtete er die Konkurrenz. «Ich erschrak, wie dünn die alle waren.» Schnell wurde dem Zürcher klar: «Wenn ich weit fliegen will, muss ich leicht sein.»
Kurz darauf stellte der ehrgeizige Sportler seine Ernährung freiwillig um. «Ich verzichtete auf das Frühstück und Abendessen.» Im Internet bestellte er sich verschiedenste Diätprodukte.
Wie ungesund sein Essverhalten war, realisierte Peter bald einmal. «Wenn ich während der Saison am Morgen erwachte, wurde es mir beim Aufstehen schwarz vor Augen.»
Ein Warnsignal, welches der Zürcher jahrelang ignorierte. Für ihn gehörte dieser Lebensstil zu einem erfolgreichen Skispringer. Oftmals wurde dies aus der Sicht von Peter auch im Team gelebt. «Manchmal erhielt ich den Eindruck, dass das Gewicht wichtiger ist als die Leistung und der Spass am Sport.»
Verletzende Sprüche und Blicke
Die unregelmässigen Gewichtskontrollen der Trainer begannen mit 17 Jahren. Rückblickend sagt Peter: «Die Zahl auf der Waage hat mich in den Wahnsinn getrieben. Jeden Morgen wachte ich mit einer Angst in mir auf.» Dabei belastete ihn stets die gleiche Frage: Muss ich heute auf die Waage? «Wenn ich eine sah, egal wo, schoss mein Puls sofort auf 180.»
Besonders hart trafen ihn Bemerkungen des Trainers. Begrüssungen wie: «Heute hast du aber wieder dicke Oberschenkel», machten ihm zu schaffen. Aber Peter liess sich nichts anmerken. «Dabei trafen mich solche Sprüche tief im Herzen.» Genauso wie die Blicke der Konkurrenten. «Ich konnte ihre Gedanken spüren: ‹Heute sieht er aber schwer aus. Der hat gestern bestimmt wieder zu viel gegessen.›»
Ständig unter Beobachtung
Einen speziellen Gewichtstrick wendete er im Trainingslager an. Teilweise fand die Kontrolle vor dem Training ohne Coach statt. Also wärmte sich Peter so lange auf, bis er der Letzte war, der auf die Waage musste. Draufgestanden ist er nie. «Egal, welche Zahl dort erschienen wäre, ich wollte sie nicht sehen.» Ins Trainer-Buch schrieb er einen Wert, welcher den Trainer zufriedenstellte.
Er wollte dem Coach gefallen. Auch beim gemeinsamen Essen. «Der Trainer beobachtete meinen Teller gefühlt immer. Also nahm ich noch einmal weniger als sonst und sicherlich keine Kohlenhydrate.»
Blick fragte bei einem der erwähnten Trainer nach, was er zu den Aussagen seines ehemaligen Schützlings sagt. Er schweigt und verweist auf seinen früheren Arbeitgeber Swiss Ski.
FIS reagiert mit Regeländerung
Peter steckte in einem Teufelskreis. Woche für Woche der gleiche Film: «Vom Montag bis zum Wettkampf am Sonntag ass ich kaum etwas. Am Sonntagabend verlor ich die Kontrolle. Danach hatte ich ein schlechtes Gewissen und eine enorme Wut auf mich selbst. Dann begann alles wieder von vorne.» Teilweise verdrückte er drei Tiefkühlpizzen, eine Packung Guetzli und 350 Gramm M&M's auf einmal.
Sein Idealgewicht am Wettkampftag lag bei 60 bis 61 Kilo, verteilt auf eine Körpergrösse von 1,82 Meter. «Dieses zu erreichen, war ein riesiger Kampf.» Damit ist Peter nicht alleine. Viele Skispringer hungern für den Erfolg. Als prominentestes Beispiel gilt Olympiasieger und Vierschanzentournee-Sieger Sven Hannawald (49).
Der Weltverband FIS reagierte 2004 mit einer Body-Mass-Index-Regel, die ständig angepasst wird. Seither müssen die Springer einen BMI-Mindestwert erreichen, um die maximale Skilänge springen zu dürfen.
Probleme werden oft verdrängt
Weshalb das Gewichtsproblem dennoch nicht verschwunden ist, glaubt Peter zu wissen. «Die jungen Skispringer werden oft zu früh mit ihrem Idealgewicht konfrontiert. Im Team wollte ich nicht über meine wirklichen Probleme sprechen, da ich sonst das Gefühl hatte, als Verlierer dazustehen.»
Mittlerweile hat Swiss Ski auf die sich häufenden Fälle von Essstörungen reagiert und das Programm «Fuel 2.0» lanciert. Dabei wird die Energiebilanz der Athleten untersucht und ihnen Hilfeleistungen für eine ausgeglichene Energiezufuhr angeboten.
Als Blick Swiss Ski mit dem Fall Peter konfrontiert, will sich der Verband nicht konkret dazu äussern. In einem Statement lässt man verlauten: «Ein offener, aber sorgfältiger Umgang mit der Thematik ist zentral und wird innerhalb des Schweizer Skisprung-Teams auch gepflegt.» Den Trainern vermitteln sie in Schulungen Wissen und Instrumente für die Begleitung und Unterstützung der Athleten. «Für Swiss Ski hat die Gesundheit der Athleten und Athletinnen stets oberste Priorität.»
Versteckspiel – auch vor der Familie
Nicht einmal seine Liebsten wussten, wie es im Innern von Peter aussah. «Ich verharmloste das Problem meiner Familie gegenüber jahrelang. Ich erklärte ihnen, dass mir die Fressattacken guttun und ich alles unter Kontrolle habe.» Wenn er bei seiner Familie zu Besuch war, ass er eine kleinere Portion, ging nach Hause, wo er erneut die Kontrolle verlor.
Seit seinem 17. Lebensjahr wohnt er aufgrund der besseren Trainingsbedingungen alleine in Einsiedeln. Zu Beginn des vergangenen Jahres erreichte seine Essstörung den negativen Höhepunkt. Er verlor beinahe täglich die Kontrolle über sein Essverhalten, so auch am Abend vor der Abreise an die WM nach Slowenien.
Fehlende Vertrauenspersonen
Rückblende an diesen Abend in Planica. Verzweifelt auf dem Bett in seinem Hotelzimmer. Die Qualifikation verpatzt. Wie weiter? Erst in vier Tagen findet das Springen auf der grossen Schanze statt. Sein einziger Gedanke: «Wie soll ich diese Zeit ohne Fressattacke überstehen?» Nach einem Telefonat mit den Eltern und seinem Mentaltrainer herrscht Klarheit. «Ich wollte nach Hause. Es ging nicht mehr.»
Den Trainern und Verantwortlichen erklärte er, dass ihm die Energie für weitere Sprünge fehle. Den wahren Grund – die Essstörung – behielt Peter für sich. «Ich verschwieg es ihnen, weil ich mich in ihrer Nähe nicht wohlfühlte.» Nur mit Athletiktrainer Marc Völz sprach er über seine Probleme. «Er war meine einzige Vertrauensperson im Skispringen.»
Psychologe spricht ein Machtwort
Zurück in der Schweiz suchte sich Peter medizinische Hilfe. Der Psychologe verbot ihm jeglichen Kontakt mit einer Waage. Die wiederkehrenden Fressattacken liess er in Absprache mit Experten ohne Gegenwehr über sich ergehen. Musste aber wieder lernen, jede Mahlzeit in einer angemessenen Menge bewusst zu sich zu nehmen. «Innerhalb weniger Wochen nahm ich rund 15 Kilo zu.» Der klassische Jo-Jo-Effekt. Weil sein Körper Angst vor einer erneuten Hungerzeit hatte, legte er sich Fettreserven an.
In dieser Phase träumte Peter insgeheim von einem Skisprung-Comeback. «Ich liebe diesen Sport!» Auf Anraten des Psychologen entschied er sich vorerst dagegen und setzte eine Saison aus. Mithilfe von Hypnose soll er zurück in ein normales Leben finden. «Mein Hirn musste Essen wieder lieben lernen.»
Eine wegweisende Begegnung um 2 Uhr morgens
Gleichzeitig nahm Peter einen Job im Service der Milchmanufaktur in Einsiedeln an. Ein Glücksfall. «Das tolle Team gab mir unheimlich viel Kraft.»
Und es kam noch besser. An einer Hochzeitsfeier in der Milchmanufaktur lernte Peter einen Polizisten der Kantonspolizei Schwyz kennen. «Um 02.00 Uhr bestellte er bei mir an der Bar ein Getränk. Wir kamen ins Gespräch und er gab mir seine Visitenkarte.»
Polizist sein, einer von Peters Kindheitsträume. Je intensiver er sich damit auseinandersetzte, desto klarer wurde ihm: Das will ich machen. «Als ich wieder zu 100 Prozent gesund war und meine Ärzte dies auch bestätigten, habe ich mich bei der Kantonspolizei Schwyz beworben.» Die einzelnen Hürden meisterte er bravourös. Seit Ende Februar steht fest, dass er im kommenden Herbst die zweijährige Ausbildung beginnen wird.
Narben, die nie mehr verheilen
«Meine Skisprung-Karriere ist hiermit beendet.» Wütend auf die Personen, die ihn – neben seinem eigenen Verschulden – in die Esssucht getrieben haben, ist er nicht mehr. «Ich habe Frieden geschlossen mit meinem Körper und dem Skispringen.»
Die Hungerattacken sind besiegt. Nur etwas bereitet ihm bis heute ein spezielles Gefühl: der Anblick einer Waage. Sofort sind da die unschönen Erinnerungen an früher. «Diese Narben werden wohl nie ganz verheilen.»