Aktiver Athlet packt aus
So schummeln die Skispringer bei der Anzugs-Kontrolle

Material-Ärger im Skisprung-Zirkus! Ein Athlet schildert, wie einfach er durch die Kontrollen spaziert. Jetzt werden radikale Änderungen gefordert.
Publiziert: 02.02.2023 um 20:01 Uhr
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Aktualisiert: 03.02.2023 um 07:50 Uhr
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Dunkle Wolken hängen über dem Skisprung-Sport.
Foto: freshfocus
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Nicola AbtReporter Sport

Einige Sprünge an der Vierschanzentournee sorgten im Schweizer Team für Entsetzen. Die Konkurrenz brillierte mit deutlich grösseren Anzügen. Betrugsvorwürfe wurden laut. Seit Wochen tobt ein Materialkampf um jeden Quadratmillimeter Stoff.

Wie wichtig der Anzug ist, weiss Martin Künzle (42), einer der Schweizer Skisprungtrainer: «Dank wenigen Zentimetern mehr Stoff kann der Athlet bis zu zehn Meter weiter springen.» Im Schrittbereich entsteht ein Segeleffekt, der zusätzlich Weite generiert. Deshalb bewegen sich sämtliche Springer am Reglementslimit – und darüber hinaus?

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«Es betrügen praktisch alle.»
Aktiver Skispringer
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Ein noch aktiver Athlet packt gegenüber Blick aus. «Zurzeit kann ich die Anzugskontrollen nicht ernst nehmen.» Den Beweis dafür liefert er gleich selbst. Am vergangenen Skiflug-Wochenende in Kulm (Ö) sprang der Athlet mit einem verbotenen Anzug. «Das Volumen war zu gross.» Die Schrittkontrolle vor dem Start passierte er problemlos. Danach konnte er das Stadion ohne weitere Überprüfungen verlassen. Doch wie funktioniert sein Segeltrick?

«Ich ziehe den Anzug nach oben, sodass an meinen Schultern vorübergehend deutlich mehr Stoff ist.» Damit dehnt er seine Beinlänge auf das geforderte Mass aus. Plus vier Zentimeter! Denn: Das Ziel ist es, mit einer möglich kurzen Beinlänge springen zu können. «Je kürzer die ist, desto voluminöser der Schritt.» Was den Segeleffekt verstärkt. Bei der grösseren Inspektion nach dem Flug – die per Stichprobe durchgeführt wird – würde er wohl auffliegen. Dieses Risiko nimmt er in Kauf. «Es betrügen praktisch alle, da muss ich mitziehen, sonst habe ich keine Chance.» Das werde vorerst so bleiben. «Man hätte früher durchgreifen müssen. Jetzt sind die Kontrolleure machtlos, sonst müssten sie das halbe Starterfeld disqualifizieren.»

Skisprung-Legende zweifelt Kontrollen an

Die Anzüge der Top-Nationen an der Vierschanzentournee machten Coach Künzle stutzig. «Wenn du dir die Bilder anschaust, ist es fraglich, ob alles Verbotene geahndet wird.» Auch Skisprung-Legende Janne Ahonen (45, vierfacher Weltmeister, Olympiasieger) zeigte sich auf Instagram über den vielen Stoff verblüfft. Zu einem Bild von seinem roten Anzug (2005) und demjenigen des Polen Piotr Zyla (36) in Blau an der vergangenen Vierschanzentournee schrieb er: «Ich weiss nicht, wie der blaue Anzug hergestellt wird, aber ich weiss, dass entweder die modernen Kontrollen nicht funktionieren oder dass die Springer zu meiner Zeit und ich sehr dumm waren.»

Für den Schweizer Gregor Deschwanden (31) bedeutete der Material-Nachteil an der Tournee vor allem eines: kurze Sprünge. Der Luzerner klassierte sich nie in den Top 20. Für Künzle war klar: «Wenn du bei den anderen Anzügen siehst, die nicht regelkonform erscheinen, aber durch die Kontrollen kommen, musst du handeln.» Gesagt. Getan. Der Schrittbereich wurde vergrössert. Dann arbeitet auch die Schweiz im Graubereich? «Ja. Wir müssen ans Limit und darüber hinaus, solange es durchgeht.» Seither ist Deschwanden mehrfach in die Top 15 gesprungen.

Material-Chef braucht mehr Zeit

Blick konfrontierte Christian Kathol, Material-Chef beim internationalen Skisprungverband, mit den Bildern. Der Österreicher stört sich am Zeitpunkt der Aufnahmen. «Fotos, die am Startbalken oder beim Abbremsen gemacht werden, haben nichts mit der Haltung, mit der der Athlet kontrolliert wird, zu tun.» Er gibt aber zu, dass die Messmethode der Schritthöhe verbesserungswürdig sei. Zurzeit wird sie von Hand durchgeführt. «Das kann nicht immer zu 100 Prozent präzis sein.» In Zukunft soll eine digitale Variante Abhilfe schaffen.

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«An einem Wettkampfwochenende kann ich maximal 80 - 85 Prozent der Springer ausführlich überprüfen»
Christian Kathol, Material-Chef beim internationalen Skisprungverband
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Ein weiteres Problem sind die spärlichen Kontrollen. Berni Schödler (51), der Skisprung-Chef bei Swiss-Ski, ärgert sich über diese Schlupflöcher. «Das Material jedes Athleten soll vor oder nach dem Wettkampf vollumfänglich geprüft werden.» Zurzeit ein Ding der Unmöglichkeit, wie Kathol erklärt. «An einem Wettkampfwochenende kann ich maximal 80 bis 85 Prozent der Springer ausführlich überprüfen. Für alle haben wir keine Zeit und zu wenig Kontrolleure.» Da an einem Wochenende jeweils zwei Springen stattfinden, schrumpft die Zahl der ausführlich kontrollierten Athleten auf unter 50 Prozent pro Wettkampf.

Top-Nationen mit taktischem Vorteil

Weshalb der Anzugs-Poker zu einer taktischen Spielerei wird. Dabei sind die grösseren Nationen aus Österreich, Norwegen oder Polen im Vorteil. Bei ihnen gehen teilweise sieben Springer an den Start. Das eröffnet neue Möglichkeiten, wie Künzle erklärt: «Wenn alle einen irregulären Anzug tragen, kommen zwei oder drei Athleten damit durch.»

Wie soll das in Zukunft verhindert werden? «Weniger Regeln, dafür diese richtig kontrollieren. Das Regelwerk ist derart gross, dass ein oder zwei Kontrolleure dieses gar nicht überblicken können. Zudem wäre eine grosse Kontrolle oben an der Schanze sinnvoll.» Beim Weltcup Mitte Januar im japanischen Sapporo wurde dieser Vorschlag erstmals umgesetzt. Das Echo war positiv, aber es gibt Bedenken. «Auf anderen Weltcupschanzen dürfte der Platz zum Problem werden», meint Künzle. Die Materialkontrolle ist und bleibt das grösste Mysterium im Skispringen.

Über diesen Sprung rätseln die Skispringer
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Zentimeter über Boden:Über diesen Sprung rätseln die Skispringer


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