Daniel Düsentrieb wäre der geborene Skispringer. In kaum einer Sportart wird mehr getüftelt und getrickst. Dabei ist der Anzug das effektivste Experiment-Objekt. Der Schweizer Andreas Küttel (43) griff sogar zum Haarspray! Während seiner Juniorenzeit liess der Weltmeister von 2009 nichts unversucht. «Wir sprühten unseren Anzug mit Haarspray voll, damit die Luftdurchlässigkeit abnahm.» Je weniger Luft in den Anzug eintritt, desto weiter trägt er den Springer. Spezifische Kontrollen gab es in den 90er-Jahren kaum.
Dass auch in der Neuzeit schamlos betrogen wird, enthüllte ein noch aktiver Skispringer gegenüber Blick. «Es schummeln praktisch alle.» Wie einfach es ist, demonstrierte er am vergangenen Wochenende gleich selbst. Die laschen Kontrollen sind für Küttel keine Überraschung.
«Das Problem ist, dass die Messungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Sobald die Türe zugeht, werden Deals gemacht.» Der Schweizer hat das selbst erlebt: «Am Tag der Qualifikation war mein Anzug irregulär, um zwei oder drei Zentimeter.» Anstatt ihn direkt zu disqualifizieren, meinte der Kontrolleur zu Küttel, er habe da noch etwas zu tun auf morgen und liess ihn gehen. «Am Wettkampf-Tag wurde ich erneut kontrolliert. Diesmal stimmte das Mass.»
Ein Vorgang, wie er unprofessioneller kaum sein könnte. Der Österreicher Sepp Gratzer (67), der über drei Jahrzehnte lang Material-Chef war (1990-2021), gibt offen zu: «Wir wollten nie Polizei spielen und unbedingt jemanden erwischen. Wir haben mit den Athleten auf Augenhöhe diskutiert.»
Anzugs-Tausch zwischen den Durchgängen
Wer am Ursprung der Schummel-Orgie steht, ist für Küttel klar: «Die Österreicher haben mit dem Material-Bschiss begonnen. Kurz darauf folgte die internationale Konkurrenz.» Ein erschreckendes Aha-Erlebnis machte der Familienvater, der in Dänemark lebt, 2005 in Lillehammer. Der Schweizer flog im zweiten Durchgang mit Schanzenrekord (139 Meter) zu seinem Premieren-Sieg im Weltcup. Am Tag darauf beim Frühstück kam Alexander Pointner (52), der damalige Cheftrainer der Österreicher, zu ihm. «Er wollte wissen, ob ich beim zweiten Sprung den gleichen Anzug trug, wie beim ersten.» Nach kurzer Verwirrung meinte Küttel: «Ich habe nur den einen Anzug.»
In diesem Moment realisierte er, wie das unfaire Spiel der Top-Nationen funktionierte. Diese tauschten zwischen den Durchgängen die Anzüge. «Wenn du nach dem ersten Durchgang in die Kontrolle musstest, konntest du davon ausgehen, dass du nach dem zweiten Sprung verschont bleibst.» Der voluminösere zweite Anzug katapultierte sie in Richtung Podest. Da die Anzugs-Farben identisch waren, blieb es im Verborgenen. Blick weiss, dass das auch heute noch gemacht wird. Alexander Pointner reagierte auf die Fragen dieser Zeitung nicht.
Gratzer schmettert Küttel-Vorschlag ab
Um das Schummel-Problem einzudämmen, fordert Küttel ein Anzugs-Limit. «In der Formel 1 gibt es auch eine maximale Anzahl an Motoren, wieso nicht pro Winter eine Anzugs-Grenze einführen?» Jeder Springer darf maximal fünf Anzüge einsetzen, so die Idee des Einsiedlers. Alles zum Vorteil der kleinen Nationen, die mit weniger Budget agieren müssen.
Von diesem Vorschlag hält Gratzer nichts. Der Gedanke des Schweizers würde nur noch mehr Schlupflöcher aufmachen, ist sich der Kärntner sicher. «Die Top-Nationen hätte kein Problem damit, die fünf Anzüge auf die Heizung zu legen und zu verbrennen. Was soll der Material-Chef in einem solchen Fall machen? Ein Startverbot aussprechen? Dann machst du den Sport kaputt. Leidtragende sind die kleinen Nationen. Diese können es sich nicht leisten, Unmengen an Anzügen zu produzieren.»
Nebst den Kontrollen ärgert sich Küttel, der 2011 seinen Rücktritt bekannt gab, über die Scheinheiligkeit im Skispringen. Während der Siegerehrung erscheint jeweils der Hinweis, dass die Material-Kontrollen noch ausstehen. Lachhaft, findet Küttel. «Die Besten werden im Nachhinein nicht disqualifiziert – niemals.»