In diesem einen Moment bricht alles aus ihr heraus. 2. März 2021 im österreichischen Obertilliach. An der Junioren-Weltmeisterschaft der Biathletinnen gewinnt Amy Baserga an jenem Dienstag überraschend Gold im Sprint. Irgendwann kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es sind Tränen der Freude und Tränen der Trauer. Ich bin Weltmeisterin! Ich habe mich mit dieser Leistung selber überrascht! Ich habe für meinen verstorbenen Freund gesiegt! Ich habe Stärke bewiesen! Im Kopf ein Wirrwarr voller unterschiedlicher Gedanken. Glücksgefühle. Trauer. Freude. Leere.
Vier Wochen später sitzt Amy Baserga auf einer Holzbank am Sihlsee. Die Frühlingssonne frisst den letzten Schnee am Ufer gnadenlos auf. Wenige Tage zuvor ging ihre Saison zu Ende. Jetzt schaut sie zurück auf die letzten acht Monate und auf den 15. August 2020, der ihr Leben für immer verändern sollte. Das Erstaunliche dabei: Baserga lacht im Gespräch auffallend oft, findet auch für die düsteren Momente positive Worte und richtet den Blick bewusst nach vorne.
Das Paar hatte grosse Pläne
Rückblende. Baserga wächst mit ihren sportbegeisterten Eltern in Einsiedeln SZ auf. Mit acht Monaten kann sie bereits laufen. Bevor sie richtig sprechen kann, fährt sie schon Velo. Früh entdeckt sie den Sport für sich. Macht Leichtathletik, Skispringen, Langlauf. Als ihr älterer Bruder Tim den Biathlon-Sport für sich entdeckt, zieht Amy nach. Nahe dem Sihlsee bauen ihre Eltern deshalb für sie und die Nachbarskinder eine Schiessanlage. Alles in Eigenregie. Seitdem hat sie das Virus nicht mehr losgelassen. «Biathlon ist unglaublich spannend», schwärmt Baserga, «im Wettkampf kann alles passieren, nach vorne und nach hinten.»
Vor allem das Schiessen und der psychologische Aspekt ihrer Sportart faszinieren sie. Im Biathlon gilt: Je weniger man am Schiessstand denkt, umso besser kommts. Doch weil man genau das weiss, besteht die Gefahr, dass man eben doch zu denken beginnt. «Habe ich die ersten vier Scheiben getroffen, kommt oft automatisch der Gedanke: Jetzt muss ich auch noch den fünften treffen, dann bin ich voll im Rennen. Dieses Müssen, das darf nicht sein, es muss ein Dürfen sein. Bist du mental bereit, triffst du in solchen Momenten auch die fünfte Scheibe.»
Baserga ist mental oft bereit. Feiert daher als Juniorin schon grosse Erfolge. Gewinnt an der Jugend-WM 2019 einmal Gold und einmal Silber. Sie fokussiert sich schon früh auf ihren Sport und besucht die Talentschule Schwyz. Dort lernt sie Lucas kennen. Die junge, talentierte Biathletin und der junge, forsche Mountainbiker werden ein Paar. Sie ist fasziniert von seiner Lebenseinstellung. Lucas geniesst das Leben. Sucht den Nervenkitzel. Macht das, worauf er Lust hat. Egal, was die anderen darüber denken. Man kann es auch einfacher ausdrücken: Er lebt!
Das Paar durchlebt auch schwierige Zeiten. Wie es für zwei Teenager ganz normal ist. Sie schmieden gemeinsame Zukunftspläne. Ferien auf Bali, eine Bike-Tour in Livigno, ihr Büssli umbauen, zusammenziehen. Die zwei stehen im vergangenen Sommer mitten im Leben. Eine Woche vor seinem Tod sehen sie sich beim gemeinsamen Zelten auf dem Wildspitz ein letztes Mal. Sie reden unter anderem über den Umzug in die Lenzerheide, der drei Wochen später hätte stattfinden sollen.
Dann realisiert sie: Lucas ist tot!
Baserga redet ruhig und offen über Lucas. Und was es mit einer jungen, suchenden Frau macht, wenn sie mit einem solchen Schicksal konfrontiert wird. Es ist beeindruckend, wie klar sie in ihren Gedanken ist. Auch über die Nacht vom Freitag, 14. auf den Samstag, 15. August 2020.
Es ist 5 Uhr morgens, als plötzlich ihr Telefon klingelt. «Wir müssen jetzt stark bleiben. Lucas ist bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen», erklären ihr die Eltern von Lucas. Amy – noch halb im Schlaf – versteht zuerst gar nicht, was sie ihr mitteilen wollen. Glaubt, das Büsi sei verstorben. Doch dann realisiert sie: Lucas ist tot! Ab jetzt wird nichts mehr so sein, wie es war. Ihre grosse Liebe, die sie ein Drittel ihres bisherigen Lebens begleitet hat, ist nicht mehr.
Nach dem Anruf steigt Amy ins Auto und fährt um 6 Uhr zu seinen Eltern nach Küssnacht SZ. Sie will nicht wahrhaben, was passiert ist. Auf den Schock folgt der Zusammenbruch. Die ersten Wochen bestehen nur noch aus Schlafen und Weinen. Mehr nicht.
Der Biathlon-Sport und ihre grossen Ziele sind in diesen Wochen weit weg. Doch dann macht ihr der beste Freund und Teamkollege von Lucas Mut. Drei Wochen nach dem tödlichen Unfall nimmt er wieder an einem Rennen teil – und gewinnt zum ersten Mal in seiner Karriere überhaupt. «Das hat mich zutiefst beeindruckt. Er stand einfach wieder auf und kämpfte weiter, während ich zu Hause nur weinte und schlief. Da sagte ich mir: Wenn er das schafft, dann schaffe ich das auch. Auch für Lucas. Er hätte nicht gewollt, dass ich alles hinschmeisse und aufgebe.»
«Nur ich kann mir helfen»
Baserga beginnt deshalb im Spätsommer wieder mit dem Training. Doch die vielen schlaflosen Nächte zerren an ihr. Mehr als zwei, drei Stunden schlafen kann sie nicht, denn in ihren Träumen taucht Lucas immer wieder auf. Alles in ihrem Leben erinnert an ihn. Sitzt sie im Flugzeug, denkt sie: Das letzte Mal geflogen bin ich mit ihm. Fährt sie mit ihrem Büssli, denkt sie: Das wollten wir doch zusammen umbauen.
Natürlich leidet das Training darunter. Ein ständiges Auf und Ab. Es gibt Tage, da hat sie einfach nicht die Kraft dazu. Und dann gibt es aber auch die Tage, an denen sie Vollgas geben und den «Fighter-Instinkt», wie sie es nennt, aktivieren kann. «Mein grosses Ziel war immer die Junioren-WM. Das half mir, mich in schwierigen Tagen zu motivieren.»
Dabei sucht sie auch immer das Gespräch mit Lucas. Geht es ihr nicht gut oder ist sie unsicher, fragt sie ihn: Was soll ich machen? «Und dann habe ich mir eingebildet, seine Antwort zu hören.» Die Schwyzerin nimmt dabei auch psychologische Hilfe in Anspruch, «doch sind wir mal ehrlich: In einer solchen Situation kann dir niemand von aussen helfen. Nur ich kann mir helfen».
Unterstützung erhält sie dabei von ihrer Familie und den gemeinsamen Freunden, die sie mit Lucas hatte. Kraft gibt ihr die Lebenseinstellung von Lucas. «Leben! Ich probiere immer, das Beste aus der Situation zu machen und schlechte Tage einfach zu akzeptieren.»
Trotzdem ist es wohl kein Zufall, dass Amy eher schlecht in die letzte Saison startet. Bis zur WM passt eigentlich nicht viel zusammen. Sie versucht, das Geschehene bewusst zu verdrängen. Im Wissen, dass diese Gedanken später wie ein Bumerang zurückkommen könnten. Dabei schlägt die Spitzensportlerin in ihr durch. «Natürlich bin ich ehrgeizig und wollte beweisen, dass ich einen solchen Schicksalsschlag überstehen kann.»
Ihr Plan geht auf. Baserga läuft im WM-Sprint ihr bestes Rennen der ganzen Saison. Schnell in der Loipe, null Fehler im Schiessen, Gold! Einen Tag später doppelt sie gar nach. Gold in der Verfolgung. Als Belohnung darf sie zweieinhalb Wochen später sogar noch im schwedischen Östersund ihre Weltcup-Premiere feiern und dort eines ihrer grossen Vorbilder, die italienische Erfolgsbiathletin Dorothea Wierer, erstmals live sehen.
Sie will für Lucas weiterkämpfen
Baserga redet mittlerweile seit über einer Stunde über die letzten schwierigen Monate.
Am linken Handgelenk trägt sie zwei Freundschaftsbändeli, die Lucas und sie einst in ihren gemeinsamen Ferien auf Mallorca gekauft haben. Sie hat es seit seinem Tod nie mehr abgezogen.
Hat sie Angst, jetzt, nach dem Saisonende, in ein tiefes Loch zu fallen? Baserga überlegt einige Sekunden lang. «Ja, das kann passieren, und es darf auch passieren. Wenns so kommt, dann kommts so.» Sie weiss, auch wenn sie es selbst nicht so klar anspricht: Sie hat in den letzten Monaten vieles verdrängt. Was bringen einem schon zwei Goldmedaillen, wenn man einen der wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren hat? Wie soll man je wieder unbeschwert sein, wenn man doch überall und zu jeder Nacht- und Tageszeit an Lucas denkt?
Verständlich, dass Baserga deshalb oft versucht, sich abzulenken. Mit Freunden und der Familie. Ihr Plan? Möglichst selten allein sein, damit die Gedanken ja nicht zu kreisen beginnen. Und wenn doch mal niemand um einen herum ist? Netflix schauen, sich berieseln lassen.
Eines hat sie in den vergangenen Monaten gelernt: «Ich versuche, das Leben zu geniessen und nicht nur den Spitzensport zu sehen.» Denn sie hat am eigenen Leib erfahren, dass alles sehr schnell vorbei sein kann. Deshalb lebt sie nach dem Lustprinzip. «Möchte ich lieber zwei Tage campen gehen als zu trainieren, dann mache ich das. Umgekehrt gebe ich Vollgas, wenn ich trainiere. Ich will spontan sein.»
Das Gespräch mit Baserga neigt sich dem Ende zu. Bevor sie ins Büssli steigt und der Abendsonne entgegenfährt, will sie eines noch unbedingt loswerden: «Aber nicht, dass die Leute jetzt das Gefühl haben, ich könnte von heute auf morgen mit dem Biathlon-Sport aufhören. Dafür ist er mir zu wichtig und macht mir zu viel Spass. Ich will noch so viel erleben, mich im Weltcup etablieren und an Olympischen Spielen teilnehmen. Auch für Lucas.»