Wenn Simone Biles durch die Luft fliegt, hält die Turnwelt den Atem an. Dann interessiert sich sogar die restliche Sportszene für die graziösen, beeindruckenden Elemente, die die Ausnahmeathletin zeigt. Und auch Berühmtheiten aus dem Showbusiness wie Tom Cruise, Lady Gaga, Ariana Grande und Snoop Dogg nehmen auf der Tribüne Platz. So geschehen im Quali-Bewerb in Paris, als Biles im Mehrkampf mit 59,566 Punkten brillierte – und einmal mehr alle in ihren Bann zog.
Die 27-jährige Texanerin könnte an diesen Sommerspielen die erste Frau seit der Tschechoslowakin Vera Caslavska 1968 werden, die ein zweites Mal Mehrkampf-Gold gewinnt. Es wäre die Krönung einer schon jetzt grandiosen Karriere – mit sieben Olympiamedaillen, darunter vier goldene, sowie 23 Mal WM-Edelmetall. Doch Biles ist auch auf einer anderen Mission, die weit über den sportlichen Erfolg hinausgeht. Paris ist der Ort ihres Comebacks auf der ganz grossen Bühne, nach Jahren, in denen sie mit allen möglichen Widrigkeiten zu kämpfen hatte. Auch mit sich selbst.
Vom Missbrauchsskandal zum «Verrat» des Heimatlandes
Vor drei Jahren hatte sie in Tokio mitten im Teamfinal aufgegeben – weil sie sich nicht bereit dazu fühlte, zu turnen. Nichts ging mehr. Biles offenbarte mentale Probleme. Unter Tränen erklärte sie, sie habe «mit all diesen Dämonen» zu kämpfen gehabt, und sagte, man müsse den Blick auf Aushängeschilder im Sport ändern: «Wir sind nicht nur Entertainer, wir sind Menschen.» Die offenen Worte über ihr psychisches Innenleben gingen um die Welt. Mancherorts wurde Biles aber auch für ihren Rückzieher angefeindet, Kritiker bezeichneten sie als «Verräterin», die ihr Land im Stich gelassen habe.
Das war 2021, wiederum nur wenige Jahre, nachdem ein gigantischer Missbrauchsskandal im US-Turnsport weltweit für Entsetzen gesorgt hatte. Auch Biles war betroffen. Und auch sie hatte im Prozess ausgesagt, in dem Teamarzt Larry Nassar für sein Vergehen an Hunderten Mädchen und Frauen zu einer 40- bis 175-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Die Schandtaten geschahen auf der berüchtigten Karolyi-Ranch in Texas, dem grössten Turn-Trainingszentrum der USA, in das Biles stiess, weil ihr immenses Talent unübersehbar war.
Die 1,42 m kleine Turn-Grösse stammt aus schwierigen Verhältnissen. Der Vater verliess die Familie früh, ihr Bruder wurde 2019 wegen Mordverdacht verhaftet, später aber wieder freigelassen. Weil ihre leibliche Mutter alkoholkrank war, wurden Biles und ihre jüngere Schwester Adria von ihrem Grossvater Ron und dessen zweiter Ehefrau Nellie adoptiert.
Ihre wichtigste Medaille bekam sie von Biden
Das Paar förderte die junge Simone – und sah sie rasch zu einer Top-Athletin heranwachsen. Zu einer, nach der Turnelemente benannt werden sollten. Und einer, die über ihr sportliches Können hinaus zur Ikone wurde. 2022 erhielt Biles von US-Präsident Joe Biden die Freiheitsmedaille überreicht, eine der höchsten zivilen Auszeichnungen der Vereinigten Staaten. Denn Biles hatte durch die Offenlegung ihrer mentalen Probleme vielen anderen Menschen Mut und Kraft geschenkt, dies auch zu tun oder Hilfe zu holen.
Allein, dass die Überturnerin in Paris-Bercy wieder auf olympischer Bühne steht, darf als riesiger Erfolg angesehen werden. Nachdem sie nach Tokio in ein tiefes psychisches Loch gefallen war, konnte sie nach eigenen Aussagen erst ab Januar 2023 wieder ein ernsthaftes Training betreiben. Das «Trauma», von dem sie spricht, die Panikattacken und Weinkrämpfe, all das liess sie hinter sich – und kämpfte sich Schritt für Schritt an die Weltspitze zurück. Noch im selben Jahr holte sie viermal WM-Gold.
Vermuteten nach Tokio viele Beobachter, das wäre es gewesen mit Biles’ Karriere, so lagen diese falsch. Biles ist auch in Paris trotz leichter Wadenverletzung erste Goldanwärterin, überall, wo sie antritt. Erstmals am Dienstag im Team-Final. Doch ihr geht es auch darum, wieder ein harmonisches Verhältnis zum Turnsport aufzubauen. In der Netflix-Serie «Simone Biles: Wie ein Phönix aus der Asche» beschreibt sie ihre Mission so: «Ich will keine Angst mehr vor diesem Sport haben.»