Diese Eröffnungsfeier war ein Härtetest. Gnadenlos öffnete der Himmel kurz vor Beginn seine Schleusen über Paris und machte sie bis zum Ende nicht mehr zu. Ein Härtetest für die Athletinnen und Athleten, von denen die meisten tapfer auf den Booten standen, tanzten, sangen, winkten und Fähnchen schwangen. Viele eingepackt in Regenponchos. Hoffentlich haben alle diese Dauerdusche gesund überstanden.
Ein Härtetest ebenso für die Zuschauer, die in kürzester Zeit völlig durchnässt waren. Ein Härtetest auch für die 3000 Artistinnen und Artisten, die entlang der Seine ihre so lang erprobten Showeinlagen zum Besten gaben. Ein Härtetest zudem für die Helfer und Kameraleute, für die Organisatoren, das Sicherheitspersonal und das Material. Ein Härtetest auch für die Kanalisation. Wie viele Fäkalien wurden an diesem Abend in die Seine gespült? Die Triathleten und Freischwimmer, die an ihren Wettkämpfen in den Fluss springen und darin crawlen müssen, werden sich wohl ihre Gedanken machen. Mit etwas Regen hat man am Freitagabend allgemein gerechnet, aber nicht mit einem Wasserfall, der allen alles abverlangte.
«Seht her, wir leben!»
Doch Paris weiss Widerständen zu trotzen. Knapp neun Jahre nach den islamistischen Terroranschlägen mit 130 Toten und Tausenden Verletzten und Traumatisierten, hat die Stadt Mut bewiesen und der Welt ein öffentliches Unterhaltungsspektakel sondergleichen präsentiert, mit der Botschaft: «Wir lassen uns nicht unterkriegen. Seht her, wir leben und lieben.»
Manch einer kam wohl mit einem mulmigen Gefühl an die Eröffnungsfeier. Und wurde dort mit einem gigantischen Sicherheitspersonal konfrontiert, mit Polizisten und Mitgliedern des Militärs und der Sondereinheiten. Dazu waren unter Wasser die Taucher, auf den Dächern die Scharfschützen und unter den Leuten Spezialkräfte in Zivil. Die Stimmung vor Beginn der Show war angespannt. Sirenengeheul, wo man hinhörte. Die Sicherheitsleute waren nervös. Kein Wunder, gab es doch neben den Sportlern auch Zehntausende von Zuschauern und eine Hundertschaft von geladenen VIP-Gästen zu beschützen: Staatschefs aus aller Welt, Könige, Königinnen, Prinzen, Prinzessinnen … eine Mammutverantwortung.
Die gebotene Show war eindrücklich, die Regisseure versuchten alle und alles einzubeziehen: Frauen, Männer, Geschichte, Aktualität, die verschiedensten Musikrichtungen, Sportler und Behindertensportler. Manches ging leider etwas unter im endlosen Trommelwirbel des Regens. Nicht wenige Zuschauer und auch Sportler retteten sich vorzeitig ins Trockene, verpassten so die in Metall gehüllte Reiterin mit ihrem Pferd, die sechs Kilometer lang auf einem schwimmenden Untergrund über die Seine ritt, vom Pont d'Austerlitz bis zum Trocadéro, wo sie schliesslich feierlich die olympische Flagge übergab, die später am Mast nicht flattern wollte, bloss wie ein nasser Sack in den Seilen hing und erst noch falsch herum.
Emotionaler Höhepunkt zum Schluss
Wer bis zum Ende aushielt, dem widrigen Wetter die kalte Schulter zeigte, der wurde reich belohnt. Denn als es Zeit wurde, das olympische Feuer zu entzünden, da holte die Feier Anlauf für den emotionalen Höhepunkt. Die Superstars der Sportwelt gaben sich die Fackel in die Hand. Fussball-Legende Zinédine Zidane übergab an Rafael Nadal, der die French Open in Paris sagenhafte 14 Mal gewann. Der Spanier übergab an die vierfache Olympiasiegerin Serena Williams. Die Amerikanerin an Nadia Comaneci, fünffache Goldmedaillengewinnerin und die erste Turnerin, die bei den Olympischen Spielen eine 10 erhielt. Die Rumänin an den neunfachen Olympiasieger Carl Lewis, dann übernahmen Tennis-Legende Amélie Mauresmo, NBA-Superstar Toni Parker und weitere Persönlichkeiten des französischen Sports wie Alain Bernard, Clarisse Agbégnénou, Laure Manaudou und Renaud Lavillenie. Schliesslich entzündeten die Sprint-Legende Marie-José Pérec und Judoka Teddy Riner das Feuer – ein Flammenring mit einem Durchmesser von sieben Metern, der von einem 30 Meter hohen Ballon in den Nachthimmel über Paris gezogen wurde und dort während den Spielen an Ort schweben wird. Ein Bild für die Ewigkeit.
Und noch nicht das Letzte. Für den krönenden Abschluss war Céline Dion besorgt. Die 56-jährige Sängerin aus Quebec rundete die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele mit einer atemberaubenden Interpretation von Édith Piafs «Hymne à l'amour» ab. In ein weisses Kleid gehüllt, mit zurückgebundenen Haaren stand die Kanadierin im ersten Stock des Eiffelturms, direkt unter den riesigen olympischen Ringen. Vier Jahre lang trat sie nicht mehr live auf, weil eine seltene neurologische Krankheit sie daran gehindert hatte. Doch da stand sie, unerschütterlich im Regen und sang herzzerreissend, gefühlvoll, unwiderstehlich, atemberaubend: «Der blaue Himmel kann ruhig über uns einstürzen. Und die Erde unter uns zusammenbrechen. Es würde mich nicht interessieren, wenn du mich liebst.»
Spätestens da hatten auch die Hartgesottenen unter den Zuschauern wässrige Augen. Es waren keine Regentropfen, wie die Stunden zuvor. Jetzt waren es Tränen der Rührung. Und zumindest in diesem Moment waren sie vergessen, all die Sorgen, Probleme, Konflikte und Kriege dieser Erde. Und es machte sich kurz ein Gefühl der Hoffnung breit, dass es vielleicht doch möglich ist, in einer geeinten und friedlichen Welt zu leben, in der die Liebe die Menschen leitet. Allein für dieses einmalige und wertvolle Gefühl muss man dieser Eröffnungsfeier eine Goldmedaille umhängen.