Es sind bei weitem nicht nur die sportlichen Erfolge, die Giulia Steingruber so bewundernswert machen. Das energiegeladene Mädchen aus Gossau zieht 14-jährig zuhause aus. Nach Biel, um im nationalen Trainingszentrum in Magglinen eine ambitionierte Kunstturnerin zu werden.
Ihre Eltern Fabiola und Kurt Steingruber lassen sie ziehen, kümmern sich weiter um ihre von Geburt an schwerbehinderte Tochter Désirée, die mittlerweile verstorben ist. «Es ist immer noch schwer zu ertragen», sagt Schwester Giulia in diesem Sommer zu Blick. «Sie fehlt jeden Tag.»
Aber Désirée hat sie auch stark gemacht. «Sie ist ein Antrieb für mich», erklärte sie einst. Sie habe Energie für zwei, vielleicht die Kraft der Schwester noch dazu bekommen. «Ich kann tun und lassen, was ich will. Sie leider nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, ich turne auch für Désirée.»
Mit 17, drei Jahre nach ihrem Umzug, ist Steingruber bereits die Beste der Schweiz. In allen Einzeldisziplinen wie auch im Mehrkampf wird sie nationale Meisterin (bis heute hat sie 37 SM-Titel!). Weitere zwei Jahre drauf gelingt der internationale Durchbruch. An ihem Paradegerät Sprung tritt sie in Moskau in die grossen Fussstapfen von Ariella Kaeslin, wird Europameisterin.
Zwischen Erfolgen und Verletzungen
Von da an sammelt die Schweizer Sportlerin des Jahres 2013 Edelmetall. Nebst dreimal Bronze und einmal Silber folgen fünf weitere goldene EM-Medaillen – vier davon dank ihren Standard-Sprüngen «Tschussowitina» und «Jurtschenko». 2015 in Montpellier holt sie gar den ersten Mehrkampf-Sieg einer Schweizerin.
Noch wertvoller aber sind ihre Podestplätze im leistungsstarken globalen Vergleich. Bronze am Sprung für die Schweizer Fahnenträgerin bei den Sommerpielen in Rio. Die Ringe hatte sich die erste Schweizer Olympia-Medaillengewinnerin im Turnen bereits nach London 2012 über die Rippen tätowieren lassen.
Kurz nach dem Rio-Coup der Schock: Im Boden-Final hat sich Giulia am Fuss verletzt. Der Teilanriss des Aussenbandes und die Knochenabsplitterungen im Sprunggelenk läuten eine Leidensphase ein, welche die Zähheit der Gossauer Ehrenbürgerin mehr als alles andere unter Beweis stellt.
Die Rehabilitation nach der OP fällt 2017 zusammen mit der Trauer über den Tod ihrer Schwester. Trotzdem – und obwohl ihr Jugendtrainer Zoltan Jordanov just in dem Jahr den Schweizerischen Turnverband (STV) verlässt – kämpft sie sich zurück. Und schliesst mit Sprung-Bronze an der WM in Montreal die letzte Lücke in ihrem Palmares.
Doch schon im Sommer 2018 reisst an einem Testwettkampf ihr Kreuzband im linken Knie. Nach einem weiteren Jahr Reha schafft sie wieder den Anschluss an die Weltspitze, sichert sich ihr drittes Olympia-Ticket.
Giulia trotzt auch Corona-Zwangspause
Als wäre das alles nicht schon genug, muss sie dann durch die Corona-Pandemie zwangspausieren. Kurz zieht Steingruber ein Karriereende in Betracht. Aber motiviert durch die verschobenen Spiele in Japan und die EM in Basel beisst sie weiter. Am Heim-Event springt sie zum letzten mal nach Gold – ihre anderen Final-Qualifikationen kann sie wegen eines Muskelfaserrisses im Oberschenkel nicht mehr nutzen.
Und sich leider auch nicht mehr gebührend für Tokio vorbereiten, wo sie sich ursprünglich neue Übungen mit gesteigerten Schwierigkeitswerten vorgenommen hatte. Steingruber kann sich für den Mehrkampf-Final, nicht aber für Gerätefinals qualifizieren, wird dabei hart – für ihr Empfinden zu hart – von den Punktrichtern bewertet.
Doch das dürfte bereits Schnee von gestern sein. Unsere grösste Kunstturnerin der Geschichte freut sich heute auf einen neuen Lebensabschnitt. Und wird von der Schweiz für Leistung, Kampfgeist und viel Herz mit «Summa cum laude» bewertet.