Wie die neuen STV-Chefs den Verband wieder in die Spur bringen wollen
«So kann es nicht weitergehen»

Zentralvorstands-Präsident Fabio Corti und Direktorin Béatrice Wertli sind nicht zu beneiden: Sie sollen den skandalgebeutelten STV wieder in die Spur bringen.
Publiziert: 30.01.2021 um 18:46 Uhr
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Aktualisiert: 02.05.2021 um 16:30 Uhr
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Direktorin Béatrice Wertli will den STV wieder in die Spur bringen.
Foto: Keystone
Interview: Emanuel Gisi

BLICK: Béatrice Wertli, Fabio Corti, was haben die Ergebnisse des Pachmann-Berichts bei Ihnen ausgelöst?

Corti: Ich war überrascht. Es war bekannt, dass die Rhythmische Gymnastik eine schwierige und harte Sportart ist. Aber von diesen Zuständen wusste ich nichts. Das hat mich nicht schockiert, aber es macht mich betroffen. Wenn ich lese, wie viele Turnerinnen in der Vergangenheit den Eindruck hatten, nicht anständig behandelt zu werden… Ich habe mit solch einer Dimension nicht gerechnet.

Wertli: Der Report hat bei mir eine grosse Betroffenheit ausgelöst, ich habe zwei Töchter im Alter von 10 und 11 Jahren. Es ist klar: Jede Athletin, die leiden muss, ist eine zuviel. Gleichzeitig war ich beeindruckt und stolz darauf, dass der Verband gesagt hat, wir müssen Transparenz schaffen. Die Vergangenheit können wir nicht ungeschehen machen. Wir können sie nur aufarbeiten und die Lehren für die Zukunft daraus ziehen.

Frau Wertli, Sie treten ihr Amt erst im März an. Eine Vergangenheit im Turnsport haben Sie nicht. Wussten Sie vor einem Jahr, welche Kultur in der Rhythmischen Gymnastik (RG) vorherrscht?

Wertli: Nein. Ich weiss, dass der Sport an der Spitze hart ist und dass es durchaus tough und entbehrungsreich sein kann, in Magglingen zu leben und zu trainieren – das habe ich auch als Kommunikationschefin des Baspo früher hautnah miterlebt. Und ich hatte natürlich mitbekommen, was über die Situation der Gymnastinnen berichtet wurde.

Wie bekommen Sie diese Kultur jetzt in den Griff?

Corti: Für mich ist entscheidend, wie das neue Spitzensportkonzept aussehen wird. Dort werden die sportlichen Ziele definiert. Darin wird auch festgelegt, wie sportmedizinisch vorgegangen werden muss. Dieses Dokument definiert unsere Strategie. Entscheidend wird auch die Position des neuen Chefs Spitzensports sein, der Nachfolger von Felix Stingelin. Wir werden ein sehr sorgfältiges Selektionsverfahren durchführen und den besten Kandidat oder beste Kandidatin finden.

Wertli: Was uns sehr wichtig ist: Die Probleme beginnen viel früher als in Magglingen. Es braucht eine breit abgestützte Unterstützung des neuen Spitzensportkonzepts. Als erste Massnahme treten wir einen Schritt zurück. Wir haben festgestellt, dass wir den Druck reduzieren müssen. Olympia 2024 ist darum nicht mehr das Leistungsziel für die Gymnastinnen. Aber wir wollen weiterhin, dass Leistung möglich ist. Mit realistischen Zielen, mit Trainingsmethoden, die die Gesundheit nicht gefährden. Wir wollen keine Schnellschüsse. Die Gesundheit der Athletinnen hat für uns oberste Priorität.

Sie wollen keine Schnellschüsse. Der Report zeigt aber, dass die RG in der Schweiz ein flächendeckendes Problem hat. Was tun Sie jetzt konkret?

Corti: Es ist eine ganz schwierige Situation. Wir werden moderne Aus- und Weiterbildungsmodule anbieten, von denen Trainerinnen und Trainer profitieren können. Wir werden Coaches, Turnerinnen und Familien informieren, dass wir seit 1. Januar über eine Ethik-Kommission verfügen, an die sie sich wenden können. Jede Turnerin soll wissen, was im Training erlaubt ist und was nicht – und wo sie sich melden kann, wenn etwas schief geht. Das sind konkrete Massnahmen, die wir in einem ersten Schritt umsetzen werden.

Wertli: Allein schon das Wissen darum, dass die Ethik-Kommission existiert, schafft eine neue positive Stimmung und schafft Vertrauen - und wir haben damit neue Möglichkeiten. Bei der Besetzung neuer Stellen werden wir ein grosses Augenmerk auf Führungsfähigkeiten und Kommunikation legen. Es wird immer von einem Kulturwandel gesprochen. Ich weiss nicht, ob die Kultur schlecht ist.

Sie glauben nicht, dass es in der RG einen Kulturwandel braucht?

Corti: Im Pachmann-Report gibt es acht Thesen, eine davon fordert einen Kulturwandel. Für uns ist wichtig, zu verstehen, was richtig gelaufen ist. Mit diesem Wissen können wir umsichtig die Zukunft planen. Wir sind beide neu in unseren Positionen. Deshalb wollen wir Alles so schnell wie möglich verstehen. Wir wollen aber nicht sofort alles auf den Kopf stellen. Der Schweizerische Turnverband leistet auch sehr viel Positives.

Sie haben die Frage nach dem Kulturwandel nicht beantwortet.

Corti: So kann es in der RG nicht weitergehen. Es müssen sich gewisse Dinge ändern. Ich kann Ihnen aber noch nicht im Detail sagen, wo wir als nächstes den Hebel ansetzen. Die Probleme, die wir haben, sind nicht einfach zu lösen, wir müssen uns vertieft damit auseinandersetzen. Mittel- und langfristige Massnahmen werden nötig sein. Ob das in einen Kulturwandel mündet, werden wir sehen.

Wertli: Wir wollen die Verfehlungen aufarbeiten. Das liegt in unserer Verantwortung.

Corti: Der STV muss und wird seine Verantwortung wahrnehmen, aber auch Eltern, Trainer, Familien, das Baspo und Swiss Olympic müssen das tun. Man muss zum Beispiel überlegen, ob es nicht gut wäre, mit anderen Kindersportarten wie Eiskunstlauf und Synchronschwimmen zusammenzuarbeiten, um die Bedingungen in allen diesen Disziplinen gemeinsam zu verbessern.

Wie konkret ist das?

Corti: Wir hatten vergangene Woche bereits eine Telefonkonferenz mit Swiss Olympic, wo wir dieses Anliegen platziert haben. Wir wollen das vorantreiben, das ist uns wichtig.

Herr Corti, Sie sind bereits seit 2018 Mitglied im Zentralvorstand. Dem Gremium also, das zugelassen hat, dass sich unter den bisherigen Sport-Verantwortlichen Ruedi Hediger und Felix Stingelin diese verheerende Kultur entwickelt hat. Machen Sie sich Vorwürfe?

Corti: Ich bedaure, was in der Vergangenheit geschehen ist und ja: Ich trage für die Geschehnisse die Verantwortung. Dafür werde ich keine Ausrede suchen. Rückblickend haben wir das Ausmass der Vorfälle in der Rhythmischen Gymnastik anders eingeschätzt. Dennoch haben wir in den letzten beiden Jahren viel getan: Die Ethik-Kommission wurde ins Leben gerufen, in Biel ist eine neue RG-Halle geplant. Ausserdem haben wir für die Rhythmische Gymnastik zusätzliche finanzielle Mittel gesprochen und wir konnten zusätzliches Personal für uns gewinnen, um die Athletinnen professioneller betreuen zu können. Wir sind ein grosser Verband. Da dauern gewisse Prozesse manchmal seine Zeit. Wir unternehmen sehr viel, um das Schiff STV in die richtige Richtung zu steuern.

Sie haben eine Aufarbeitung versprochen. Wie sieht diese konkret aus?

Wertli: Die emotionale Aufarbeitung soll der Zukunft dienen und nicht noch zusätzliches Leid verursachen. Darum müssen wir diese sehr umsichtig angehen. Wir werden uns noch anschauen, was da passieren muss. Auch im Zusammenhang mit dem VBS-Bericht, der sich ebenfalls mit dem STV befasst. Uns ist sehr bewusst: Mit dem Pachmann-Bericht ist es nicht getan. Wir müssen jetzt anpacken.

Sie sind beide neu in Ihrem Amt. Was wünschen Sie sich nach diesem schwierigen Start?

Wertli: Ich bin stolz, dass ich den Schweizerischen Turnverband in eine neue Zukunft begleiten darf. Die RG-Fälle sind schwierig und wir wollen hier Transparenz schaffen. Die Missstände und Probleme müssen behoben werden. Aber sie dürfen nicht vergessen: Wir haben 370’000 Mitglieder, mit den meisten von ihnen hat all dies nichts zu tun. Unser Verband hat im Corona-Jahr 2020, neue Massstäbe gesetzt. Wir haben kurzfristig Schutzkonzepte erstellt, die auch für andere Verbände Standards gesetzt haben. Darüber wird aber kaum berichtet. Ich freue mich sehr, hier etwas bewegen zu dürfen. Auf die Arbeit an den Strukturen, darauf, das Fundament des Verbandes zu erhalten – und auf die Kunstturn-EM in Basel im April, wenn sie hoffentlich stattfindet. Ich habe einen Traumjob bekommen.

Corti: (lacht). Da habe ich nichts zu ergänzen. Ich bin froh, dass wir die richtige Direktorin gefunden haben.

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