Horror-Protokoll über den Turnverband
Jede zehnte Gymnastin wurde regelmässig geschlagen

Ein Viertel der Rhythmischen Gymnastinnen in der Schweiz musste in den letzten Jahren körperliche Schmerzen ertragen, die Hälfte wurde beschimpft und beleidigt. Das zeigt ein neuer Untersuchungsbericht.
Publiziert: 29.01.2021 um 13:00 Uhr
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Aktualisiert: 29.01.2021 um 19:54 Uhr
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Quäl-Vorwürfe in der Rhythmischen Gymnastik: im Sommer machte BLICK Missstände publik.
Foto: Urs Lindt/freshfocus
Emanuel Gisi

Im Sommer machte BLICK die schweren Vorwürfe ehemaliger Nati-Athletinnen in der Rhythmischen Gymnastik an die Adresse des Schweizerischen Turnverbandes publik: Ihre Trainerinnen hätten sie bedroht, beschimpft und mit ihnen Psychospielchen getrieben.

Die zwei Nati-Trainerinnen mussten gehen, im Zuge der Affäre und nach weiteren Enthüllungen durch BLICK, NZZ und Tamedia-«Magazin» nahmen später auch Leistungssport-Chef Felix Stingelin und Geschäftsführer Ruedi Hediger den Hut.

Am Freitag stellte der STV nun die Ergebnisse der Untersuchung dieser Vorwürfe durch eine Anwaltskanzlei vor.

Klar ist jetzt schon: Der neue Zentralvorstands-Präsident Fabio Corti und die neue Direktorin Béatrice Wertli haben eine Mammutaufgabe vor sich.

Die Untersuchung habe zwar nicht alle Vorwürfe erhärten können, sagt Thilo Pachmann von der untersuchenden Kanzlei. Gleichzeitig führt der Report Horror-Verhältnisse zutage.

Eine Umfrage unter 152 Rhythmischen Gymnastinnen, die seit 2012 im Besitz einer Talent-Card von Swiss Olympic, zeigt das schockierende Ausmass der Kultur in der RG:

  • über 90 Prozent der Gymnastinnen wurden regelmässig angeschrien
  • über 60 Prozent der Gymnastinnen wurden regelmässig beleidigt
  • über 50 Prozent der Gymnastinnen mussten regelmässig Kommentare über ihr Aussehen über sich ergehen lassen
  • über 30 Prozent der Gymnastinnen wurden regelmässig blossgestellt
  • über 25 Prozent der Gymnastinnen wurden regelmässig Schmerzen zugeführt
  • über 10 Prozent der Gymnastinnen wurden regelmässig geschlagen.

Heisst im Klartext: Anbrüllen gehörte praktisch zur Tagesordnung. Darüber hinaus wurde jede zweite Gymnastin in irgendeiner Form gequält. Methoden, wie Athletinnen in den Überspagat herunterzudrücken, seien ebenfalls vorgekommen. Diese Kultur, so Pachmann, müsse sich ändern.

Dazu kommt, dass es in der Schweiz keinen elastischen Hallenboden gibt, der den Bedürfnissen der Rhythmischen Gymnastinnen auf Spitzen-Level zugute kommt.

Kein Spitzensport-Problem

Wer glaubt, dabei handle es sich um ein reines Spitzensport-Problem, irrt: Im Breitensport liegen die Prozentzahlen in den einzelnen Kategorien leicht höher, im Leistungssport sind sie etwas tiefer als der angegebene Wert.

Die Folge der zweifelhaften Methoden laut Pachmann: Ein «konstant schlechter Gesundheitszustand der Gymnastinnen». Nur vereinzelte Gymnastinnen hätten darum überhaupt das Höchstleistungsalter von 21 Jahren erreicht. «Der STV hat es nicht geschafft, Gymnastinnen in dieses Alter zu bringen.» Weil sie vorher kaputt waren.

Gymnastin musste antreten, obwohl der Arzt es verbot

Auch wenn es um die Anstellung von Trainerinnen ging, versagte der Verband. Vorwürfe an Nachwuchschefin Maria Balado, die BLICK im Sommer publik machte, waren dem Verband bereits bei der Anstellung bekannt. Trotzdem durfte die Spanierin beim STV unterschreiben.

Weiter war die zentrale medizinische Position beim STV war derweil über Jahre ebenfalls nicht besetzt.

Dazu passt, dass der Verband sogar eine Gymnastin trotz ärztlichem Verbot an einem internationalen Wettkampf hat teilnehmen lassen! Pachmann: «Zum Glück ist nichts passiert.»

Die Wurzel allen Übels: «Ein dysfunktionales, schlecht funktionierendes Spitzensportkonzept.» Ein verheerendes Urteil. Logisch, dass Pachmann sagt, dass das Wohl der Athletinnen für den Schweizerischen Turnverband an wichtigster Stelle stehen müsse. Bezeichnend, dass dies bislang scheinbar nicht selbstverständlich gewesen sein soll.

Wer ist schuld?

Unter den aktuellen Voraussetzungen, so die Untersuchung, müssten auch «die Zielsetzungen in der Rhythmischen Gymnastik stark redimensioniert werden. Sich für Olympia zu qualifizieren ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen und der aktuellen Infrastrukturen nicht realistisch.»

Zur Schuld-Frage will die neue Verbandsspitze möglichst wenig sagen. Man wolle jetzt «die Lehren ziehen», sagt Wertli. Sowohl vom ZV als auch in der Geschäftsführung habe es «Verfehlungen im Controlling gegeben, Verantwortung ist nicht wahrgenommen worden. Wir übernehmen die Verantwortung für die Zukunft.»

«Es soll nicht bei einem Sorry bleiben»

Auch Corti will nach vorne schauen: «Ich entbiete den Betroffenen ein ehrliches und direktes ‹Sorry› im Namen des Verbandes. Es soll nicht bei einem ‹Sorry› bleiben. Wir wollen das Vergangene mit den Betroffenen emotional sauber aufarbeiten.»

Die Frage, die sich der Verband nun stellen muss: Wie soll es mit der RG weitergehen? Wie kann diese Sportart auf Spitzenlevel ausgeübt werden, ohne dass junge Frauen dutzendfach gequält werden? Pachmann schlägt unter anderem die Schaffung einer medizinischen Kommission und die Einführung einer nationalen Meldestelle vor. Besserung bringen soll auch die Ethik-Kommission, die seit 1. Januar tätig ist.

Eine Arbeit, die noch eine Menge Zeit in Anspruch nehmen wird. Spätestens im Sommer werden weitere Fakten auf den Tisch kommen. Dann soll die unabhängige Untersuchung, die Bundesrätin Viola Amherd zu den Vorfällen angeordnet hat, abgeschlossen sein.


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