Ethikchefin Calmy-Rey über Brutalo-Methoden in Magglingen
«Das ist skandalös!»

Mit ihrer Ethikstiftung soll alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (75) im Turn-Weltverband für Ordnung sorgen. Sie sagt: «Der Turnsport hat ein Problem.»
Publiziert: 08.11.2020 um 00:58 Uhr
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Aktualisiert: 16.11.2020 um 08:45 Uhr
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«Ich bin erschüttert. Was da passiert ist, berührt mich extrem», sagt Calmy-Rey zu den Vorkommnissen in Magglingen.
Foto: Peter Mosimann
Emanuel Gisi

In den USA, in den Niederlanden, in Grossbritannien – auf der ganzen Welt werden Turner und Turnerinnen sexuell belästigt, psychisch misshandelt, terrorisiert, an den Rand des Suizids getrieben. Die Medienberichte scheinen nicht abzureissen. Mittendrin: die Schweiz.

Nachdem BLICK im Sommer die schwerwiegenden Vorwürfe von Rhythmischen Gymnastinnen an die Adresse ihrer Trainerinnen und des Turnverbands öffentlich gemacht hatte, fassten eine Reihe von STV-Athletinnen den Mut, öffentlich weitere schwere Verfehlungen anzuprangern.

Berichte, die alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (75) nahegehen. Als Kämpferin für die Menschenrechte, aber auch, weil sie seit anderthalb Jahren Präsidentin des Ethikgremiums des Internationalen Turnverbandes ist. In der Woche, in der die frühere Aussenministerin in den Medien als Beobachterin und Interviewpartnerin gefragt ist, nimmt sich Calmy-Rey eine Stunde Zeit, um über die neuen Vorwürfe an den STV zu sprechen – und darüber, was im Turnsport jetzt passieren muss.

BLICK: Micheline Calmy-Rey, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Berichte von jungen Kunstturnerinnen und Gymnastinnen lesen, die in Magglingen psychisch misshandelt wurden?
Micheline Calmy-Rey:
Ich bin erschüttert. Das ist das beste Wort dafür. Was da passiert ist, berührt mich extrem. Es ist skandalös, dass so etwas in der Schweiz passieren kann – und dass die Verantwortlichen so lange Bescheid wissen und nichts getan haben. Dieses Verhalten darf nicht toleriert werden. Nicht in der Schweiz, nirgendwo sonst.

Überrascht es Sie, dass so etwas in der Schweiz geschieht?
Es darf nirgends passieren. Gleichzeitig muss man auch sagen: Der Turnsport hat ein Problem. Er ist anfällig, weil er körperlich und mental sehr anspruchsvoll ist. Junge Menschen werden sehr früh auf Leistung getrimmt, das sorgt für eine schwierige Ausgangslage. Es gibt eine problematische Kultur, die sich über Jahrzehnte etabliert hat. Nicht überall, aber zu oft. Das gilt offenbar auch für die Schweiz.

Der Schweizerische Turnverband wird seit Jahren immer wieder von ähnlichen Enthüllungen geplagt. Fragt man nach, heisst es faktisch: Bedauerlich, aber ein Einzelfall. Teilen Sie diese Ansicht?
Das sind keine Einzelfälle! Wir bekommen viele Hinweise, auch aus der Schweiz. Unsere Ethik­stiftung gibt es erst seit 2019, wir sind noch nicht lange aktiv. Aber wir bekommen sehr viele Meldungen aus der ganzen Welt. Oft geht es da genau um das Verhalten der Trainer und Trainerinnen. Es ist kein Schweizer Phänomen, aber es ist beschämend, dass es auch in der Schweiz passiert.

Die jungen Frauen, die sich jetzt wehren …
… ich applaudiere ihnen. Ich unterstütze alle, die den Mut haben, sich gegen solche Praktiken zu stellen und öffentlich anzuprangern, was schiefläuft. Sie machen mir Hoffnung.

Inwiefern?
Sie stehen für eine neue Genera­tion von Athleten und Athletinnen, die sich nicht mehr alles gefallen lässt. Sie wehren sich, lassen nicht mehr alles mit sich machen, sie klagen an. Das braucht viel Mut. Es ist ihnen zu verdanken, dass dieses Problem zunehmend allgemeine Aufmerksamkeit gewinnt.

Es gibt weiterhin Athletinnen, die sich auf den Standpunkt stellen: Das ist halt Spitzensport. Was sagen Sie denen?
Es gibt genügend korrekte, angemessene Trainingsmethoden, die ebenfalls zum Erfolg führen. Methoden, wo es keinen physischen oder psychischen Missbrauch gibt. Jemanden psychisch zu quälen, hat mit Spitzensport nichts zu tun. Das ist nicht normal. Einen Widerspruch zwischen Leistung und anständiger Behandlung gibt es nicht.

Viele sehen das aber weiterhin als normal an.
Das ist ein Problem und liegt daran, dass es so weit verbreitet ist. Darum wird es für normal gehalten. Aber ich kann Ihnen sagen: Viele Athleten und Athletinnen akzeptieren das nicht mehr. Es ändert sich was. Es muss sich auch etwas ändern. Das gilt auch für andere Sport­arten. Die positiven Trainings­modelle und -praktiken, die auch zum Erfolg führen, müssen meiner Meinung nach noch stärker kommuniziert werden. Nur so erreichen wir ein langfristiges Umdenken.

Wie helfen Sie mit Ihrer Stiftung misshandelten Athletinnen?
Wir haben mehrere Rollen: Zum einen sind wir in der Prävention tätig und beraten etwa nationale Verbände, wie sie ihre Athleten und Athletinnen am besten schützen können. In Zukunft werden wir auch internationale Wettkämpfe besuchen, um die Teilnehmer und Teilnehmerinnen direkt auf uns aufmerksam zu machen. Sie müssen wissen, dass es uns gibt und sie sich an uns wenden können.

Und sonst?
Denn zum anderen haben wir auch die Rolle, konkreten Vorwürfen von Ethikverstössen nachzugehen und Untersuchungen einzuleiten. In erster Linie sind die Verbände zwar dafür verantwortlich, Regeln und Prozesse zu etablieren, damit die Athletinnen geschützt sind. Wenn das aber nicht klappt, untersuchen wir Fälle, die an uns herangetragen werden. Unsere Disziplinarkommission kann Sanktionen erlassen, die der Turn-Weltverband FIG dann vollstrecken muss.

Und wenn ein Verband nicht kooperiert?
Dann müssen wir eingreifen und die FIG darüber unterrichten. Das ist Teil unserer Aufgabe. Wir müssen sicherstellen, dass es den Athleten und Athletinnen gut geht.

Wie kommt das bei den Verbänden an?
Es ist schwierig, eine Kultur zu verändern. Aber es existiert ein Bewusstsein für das Problem. Die nationalen Verbände haben der Gründung unserer unabhängigen Stiftung zugestimmt, das zeigt, dass die Notwendigkeit erkannt wurde, dass etwas passieren muss. Es braucht einen globalen Ansatz: Es kann nicht sein, dass ein Trainer oder eine Trainerin in einem Land Athletinnen misshandelt und dann an einem anderen Ort trotzdem wieder angestellt wird. Wir brauchen eine gemeinsame positive Vision und eine koordinierte Vorgehensweise. Wir müssen in dieser wichtigen Frage alle eng zusammenarbeiten.

Wie viele Fälle bearbeiten Sie?
Zu aktuellen Fällen darf ich mich nicht äussern, aber ich kann Ihnen versichern, dass es bereits Dutzende auf allen Ebenen sind. Es gibt nicht nur im Spitzensport Fälle.

Micheline Calmy-Rey persönlich

Micheline Calmy-Rey (75) wurde 2002 in den Bundesrat gewählt, bis zu ihrem Rücktritt 2011 führte sie das Aussendepartement. 2007 und 2011 amtierte die Sozialdemokratin zudem als Schweizer Bundespräsidentin, als zweite Frau in der Geschichte (nach Ruth Dreifuss). Seit Februar 2019 ist sie Präsidentin der damals neu geschaffenen Ethikstiftung des Turn-Weltverbandes FIG. Ausserdem ist sie Gastprofessorin am Global Studies Institute der Uni Genf.

Micheline Calmy-Rey (75) wurde 2002 in den Bundesrat gewählt, bis zu ihrem Rücktritt 2011 führte sie das Aussendepartement. 2007 und 2011 amtierte die Sozialdemokratin zudem als Schweizer Bundespräsidentin, als zweite Frau in der Geschichte (nach Ruth Dreifuss). Seit Februar 2019 ist sie Präsidentin der damals neu geschaffenen Ethikstiftung des Turn-Weltverbandes FIG. Ausserdem ist sie Gastprofessorin am Global Studies Institute der Uni Genf.

Haben Sie schon die Zustände im Schweizerischen Turnverband unter die Lupe genommen?
Wenn es ein Verfahren gäbe, würden wir uns dazu erst äussern, wenn es abgeschlossen ist.

Beobachter fordern, dass das Mindestalter für die Teilnahme an internationalen Wettkämpfen hochgesetzt wird. Hilft das?
Das kann ich nicht beurteilen und ist eine Frage für den Weltverband. Ich bin keine Turnerin, ich bin Präsidentin dieser unabhängigen Stiftung, weil ich mich für die Menschenrechte einsetze. Vielleicht würde es helfen. Aber die Athletinnen und Athleten wären trotzdem schon sehr jung im System.

Sie sagen, es brauche einen Kulturwandel. In vielen Verbänden ist aber noch die alte Garde am Ruder. So auch in der Schweiz, wo STV-Geschäftsführer Ruedi Hediger seit Jahrzehnten in zen­traler Funktion tätig ist. Ist dieser Wandel überhaupt möglich, solange Männer wie er amten?
Zu konkreten Personalien kann ich mich nicht äussern. Wir beschäftigen uns mit den Fällen, die an uns herangetragen werden. Was klar ist: Nicht nur die Trainer und Trainerinnen stehen in der Verantwortung, sondern auch ihre Chefs. Natürlich wäre ein Generationenwechsel hilfreich, um die Kultur zu verändern. Denn wie ich schon gesagt habe: Die jungen Athleten und Athletinnen akzeptieren nicht mehr, wenn man sie psychisch fertigmacht.

Wird genug getan?
In manchen nationalen Verbänden passiert seit Jahren schon etwas. Wir haben einfach gemerkt, dass die Schweiz sich nicht von anderen Ländern unterscheidet. Und dass solche Dinge in Magglingen passieren, ist besonders schlimm.

Weshalb?
Weil hinter Magglingen offiziell der Bund steht! Wenn man die Fälle anschaut, die in den letzten Monaten publik wurden, die sich da oben abgespielt haben … Da muss man sich einfach gewisse Fragen stellen. Wie haben wir das nur zulassen können?

Welche Fragen stellen Sie sich?
Wie kann so etwas passieren? Gibt es genügend Kontrollen? Gibt es Regeln? Die negative Kultur, von der wir sprachen, scheint ganz eindeutig auch in Magglingen zu existieren.

Was muss konkret passieren?
Die Politik muss eingreifen. Sie muss diese Fragen stellen und Antworten fordern. Die Schweiz hat diesen jungen Frauen gegenüber eine Verantwortung. Wir schulden ihnen etwas.

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