Der Spitzensport ist kein Streichelzoo. Wer es auf den Gipfel schaffen will, muss viele Entbehrungen auf sich nehmen. Es braucht Disziplin, Härte gegenüber sich selbst, auch Nehmerqualitäten. Gerade im trainingsintensiven Turnsport kann das auch mit Schmerzen verbunden sein.
Dessen muss sich bewusst sein, wer ganz nach oben will. Er tut es ja freiwillig. Und trotzdem heiligt der Zweck niemals die Mittel. Die Übergriffe im Turnverband, die in den letzten Monaten an die Öffentlichkeit gelangt sind, schockieren. Es sind Grenzüberschreitungen, die nicht zu tolerieren sind. Dass Beleidigungen und Blossstellungen von jungen Frauen die Motivation fördern sollen, stammt wohl aus den Trainerlehrgängen der 70er-Jahre in der DDR.
Sport muss für ein positives Lebensgefühl stehen
Der Sport ist eine Lebensschule, zwischendurch auch eine sehr harte. Er soll Emotionen vermitteln, er soll verbinden, und er muss am Ende für ein bewegtes Leben und für ein positives Lebensgefühl stehen. Wenn er traumatisierte junge Frauen produziert, wird er ad absurdum geführt.
Die Vorgänge in Magglingen müssen schonungslos aufgearbeitet werden, die Konsequenzen müssen folgen. Viola Amherd ist derzeit als Sportministerin gefordert wie kaum einer ihrer Vorgänger. Sie muss in der Corona-Krise den Breiten- und den Spitzensport retten. Und jetzt in Magglingen, in diesem mit Steuergeld finanzierten Staatsbetrieb, aufräumen.
Die verantwortlichen Trainer sind nicht mehr im Amt zu halten. Auch die Spitze im Turnverband hat über Jahre komplett versagt.
Und welche Rolle spielt das Bundesamt für Sport? Dessen Chef Matthias Remund ist zuletzt auch von den Profiklubs harsch kritisiert worden. Sie fühlen sich schlecht vertreten. Und jetzt fragt man sich: Was macht Remund in Magglingen? Schaut er in seinem Büro am Ende der Welt zum Fenster hinaus auf den Bielersee statt in die Trainingshallen?
In der Diskussion gibts auch eine Doppelmoral
Der Skandal schreit nach Sanktionen, nach einem Neustart, nach einem neuen Geist, nach neuen Köpfen. Einen solchen Sport wollen wir nicht.
Gleichzeitig aber muss sich auch die Gesellschaft fragen, welchen Spitzensport wir wollen. Denn bei allem Entsetzen: In der ganzen Diskussion gibt es auch eine gewisse Doppelmoral und Scheinheiligkeit.
Fans und Sponsoren schreien nach Erfolgen. Und hauen mit der Faust auf den Stammtisch, wenn unsere Sportler nicht vom Podest winken und in der hinteren Ranglistenhälfte «herumturnen». Die investigativen Journalisten machen dann den grossen Krisenreport.
Darum: Welchen Preis sind wir für den Erfolg zu zahlen bereit? Den Preis, den die jungen Frauen in Magglingen bezahlt haben, sicher nicht. Aber trotzdem muss sich jeder mit dieser philosophischen Frage auseinandersetzen. Denn der Spitzensport ist eine stetige Gratwanderung. Leistungskultur im Kuschelklima gibt es nicht.
Diese Monate sind für den Sport belastend. Und trotzdem auch eine Chance. Auch für den professionellen Mannschaftssport. Dort sind die wenigen überrissenen Spielergehälter das Thema. Aber auch hier: Man kann nicht heute über die Löhne einiger Fussballer und Eishockeyaner fluchen und sich morgen über die schwindende internationale Wettbewerbsfähigkeit beklagen.
Darum bleibt eine Erkenntnis dieser Zeit ganz sicher: Der erfolgreichste ist nicht zwingend immer der beste Sport.