Es soll die längste und schönste Abschiedstournee überhaupt werden: Andy Murray weiss, dass seine Tage auf der Tennis-Tour gezählt sind. Eine weitere, gravierende Verletzung oder eine Komplikation mit seinem künstlichen Hüftgelenk kann sich der 36-jährige Schotte nicht mehr leisten. Sich abermals von einer Operation zurückzukämpfen – ja, darauf könne er getrost verzichten, stellte er jüngst klar. Also setzt Murray alles daran, seinen Körper so gut und so lange wie möglich in Schuss zu halten. Denn was das Tennis, seine grosse Liebe, betrifft, hat er noch lange nicht genug.
Ob realistisch oder nicht: In diesem Jahr träumte der zweifache Wimbledonsieger von einem dritten Coup an der Church Road. Er scheiterte letztlich schon in Runde zwei und in fünf Sätzen an Stefanos Tsitsipas (24). Doch allein der Gedanke an den Triumph bei seinem Lieblingsturnier sowie die intensive (und erfolgreiche) Vorbereitung mit den Challenger-Titeln in Surbiton und Nottingham unterstreichen: Murray hat noch so viel vor.
Dabei hatte er sich 2019 eigentlich schon verabschiedet. Vor den Australian Open übermannten ihn die Emotionen, die hartnäckigen Hüftschmerzen wurden zu viel. Und er und seine Karriere schienen am Ende. Eilig wurden in Melbourne seine Verdienste von den zwei Olympiasiegen bis hin zu den drei Major-Titeln gewürdigt. Doch auf jene dramatische Ankündigung folgte nie der tatsächliche Rücktritt. Sondern ein erstaunliches Comeback, nachdem die Ärzte kurz darauf seine Hüfte operativ mit einer Metallkappe verstärkt hatten.
Ganz beschwerdefrei hat sich Murray seither zwar nicht bewegt, und doch gelingt es ihm, sich auf höchstem Niveau zu halten, was auch den reflektierten Routinier erstaunt: «Ich weiss, wie körperlich schwierig es für mich mittlerweile ist. Dass ich mich immer noch mit den Besten messen kann, überrascht mich deswegen schon.»
Als «Lernender» beim Wimbledon-Final
Allerdings scheut der vierfache Familienvater dafür auch keine Mühen. Murray will mit der Zeit gehen. Das Tennisspiel verändere sich laufend – also müsse er sich dementsprechend anpassen. Mit veralteten Denkmustern kann er ohnehin nichts anfangen, das zeigt sich auch in seinen politischen Haltungen auf der Tour. Er nennt sich Feminist, setzt sich für die Frauenrechte und Gleichberechtigung im Tennis-Zirkus ein. 2014 holte er die frühere französische Topspielerin Amélie Mauresmo (44) als Trainerin ins Boot und brach damit ein Tabu. Und in diesem Jahr appellierte er an Organisationen und Turniere, die vom Krieg gebeutelte Ukraine noch mehr zu unterstützen.
Während des Wimbledon-Finals zwischen Carlos Alcaraz (20) und Novak Djokovic (36) sass Murray auf der Tribüne – und «lernte», wie er diese Woche beim Turnier in Washington erzählte. Return-Positionen, Bewegung, Aggressivität, all dies habe er genau unter die Lupe genommen und sogar Videos davon gemacht.
Daneben liebe er es, im Fitnessraum zu leiden: «Ich mag es, wenn ich sehen kann, wie sich meine Werte im Gym verbessern. Ich bin wirklich bereit, da Arbeit reinzustecken. Ich geniesse das nach wie vor.»
Selbst besonders harte Einheiten, die er macht, um in seinem Alter konkurrenzfähig zu bleiben, würden ihn nicht abschrecken: Vor Turnieren in heissen Gefilden trainierte er eigens in Hitzekammern und absolvierte Bike-Trainings «in brutalen Verhältnissen», wie er jüngst der ATP erklärte. «Das macht es zwar nicht einfacher, bei solch schwierigen Konditionen auf den Court zu laufen, doch wenn du weisst, dass du diese Art von Training hinter dir hast und dein Gegner womöglich nicht, dann gibt dir das einen kleinen physischen und psychischen Vorteil. Und das mag ich.»
Rücktritt? «Habe eine Idee»
Es ist auch diese Leidenschaft, die den einst mürrischen Kauz zu einer der beliebtesten Figuren auf der Tour werden liess. In Zeiten, in denen sich mit Roger Federer (41) und bald auch Rafael Nadal (37) die prägenden Superstars der letzten Jahrzehnte allmählich zurückziehen, sind verbliebene Ikonen wie Murray den Fans heilig.
Der 2019 offiziell zum Ritter geschlagene Sir Andrew Barron «Andy» Murray sagt: «Ich weiss, ich werde nicht ewig weiterspielen. Ich habe eine Idee, wann ich aufhören möchte.» Bleibe er gesund, werde der Tag so schnell aber nicht kommen.
Die einen sprechen offen darüber, andere deuten es bloss an: die Olympischen Spiele 2024 in Paris sind für manch einen alternden Tennis-Star das letzte grosse Karriereziel. Bis dahin? Gilt es die Kräfte einzuteilen. Andy Murray (36) hat in diesem Jahr die French Open sausen gelassen, um Wimbledon nicht zu gefährden.
Novak Djokovic (36) verzichtete nach Paris auf sämtliche Vorbereitungsturniere für Wimbledon – und setzt nun vor den US Open auch in Toronto aus. Wegen «Ermüdung». Der 23-fache Grand-Slam-Sieger betont, die Priorität liege in seinem Alter einzig auf Major-Turnieren.
Stan Wawrinka (38) – der Älteste in den Top 100 – versucht, jede ihm auf der Tour verbleibende Sekunde zu geniessen. Er träumt von einem weiteren Titelgewinn, Olympia 2024 ist ebenfalls eines seiner Ziele. Und gleich verhält es sich auch bei Gaël Monfils (36), der sagt, seine Karriere hänge «an einem seidenen Faden». Wie bei Murray mag es bei ihm keine gröbere Verletzung mehr leiden. Und doch hat auch er einfach nur Spass an seinem Job. Ein Abschied auf olympischer Bühne in der Heimat? Klingt kitschig, könnte für Monfils aber der ideale Zeitpunkt werden (wenn er konkurrenzfähig bleibt).
Rafael Nadal (37) hat für 2024 ohnehin seine Abschiedstournee angekündigt. Murray und Wawrinka könnten mit demselben Gedanken spielen. Ein Richard Gasquet (37) auch. Djokovic dürfte hingegen auch nach Olympia weiter seinem Rekordhunger nachgehen. Eines haben aber alle Oldies gemein: Die Fans sind verrückt nach ihnen – und jede verbleibende Partie der Top-Stars ist eine Attraktion.
Die einen sprechen offen darüber, andere deuten es bloss an: die Olympischen Spiele 2024 in Paris sind für manch einen alternden Tennis-Star das letzte grosse Karriereziel. Bis dahin? Gilt es die Kräfte einzuteilen. Andy Murray (36) hat in diesem Jahr die French Open sausen gelassen, um Wimbledon nicht zu gefährden.
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