Günthardt plaudert aus dem Wimbledon-Nähkästchen
«Ich erfüllte mir hier meinen Kindheitstraum schon mit 17»

Heinz Günthardt geht in Wimbledon seit fast 50 Jahren als Spieler, Trainer oder Experte ein und aus. Ein Streifzug durch die Anlage mit dem ersten Schweizer Wimbledonsieger der Geschichte.
Foto: Sven Thomann
Seine prägendsten Orte: Ein Streifzug durch Wimbledon mit Heinz Günthardt
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Heinz Günthardt nimmt Blick mit auf eine Erinnerungs-Tour durch Wimbledon.
Foto: Sven Thomann
Publiziert: 08.07.2024 um 17:29 Uhr
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Aktualisiert: 09.07.2024 um 07:56 Uhr

Heinz Günthardt ist der grosse Schweizer Tennis-Pionier. Als Junior siegte er in Roland Garros und in Wimbledon, später wiederholte er das Kunststück an denselben Orten im Doppel. Im Mixed triumphierte er in Paris und an den US Open. Der Zürcher war einst die Nummer 22 der Welt, er coachte Weltstar Steffi Graf zu zwölf Grand-Slam-Siegen, begleitete Roger Federers Karriere von Anfang an als SRF-Kommentator – und er betreut seit 2012 das Schweizer Billie-Jean-King-Cup-Team. 

Wimbledon aber hat ihn so stark geprägt, wie kein anderes Tennisturnier dieser Welt. Höchste Zeit, unseren Blick-Experten aus dem Nähkästchen plaudern zu lassen – Günthardt zeigt uns seine wichtigsten Orte. 

Centre Court: «Auch wenn alles reisst, gebe ich Vollgas!»

«Wir schrieben das Jahr 1985. Und die Ausgangslage vor dem Doppelfinal war verrückt. Wir mussten am selben Tag noch den Halbfinal fertig spielen, weil uns noch ein einziges Game fehlte. Es lag an meinem langjährigen Doppel-Partner Balazs Taroczy (70, Ung), den Service durchzubringen. Doch er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, weil er ständig an dieses blöde Game denken musste. (Lacht) Ich hatte mir meinerseits davor eine Bauchmuskelzerrung zugezogen. Das war für den Einzel-Viertelfinal natürlich eine Katastrophe. Und auch im Doppel-Final konnte ich nicht voll aufschlagen. Doch im letzten Game dachte ich mir: Auch wenn jetzt alles reisst, gebe ich Vollgas! Diesen Matchball spüre ich bis heute. Ich traf die Kugel satt, wuchtete sie volle Kanne durch die Mitte. Es fühlte sich so gut an, dass ich schon jubelte, bevor der Match vorbei war. Aber ich hatte recht. Der Ball kam nie zurück.»

Federers Wohnzimmer: Roger bewies nicht nur im Tennis gutes Timing

«Keiner in der Open Era fühlte sich auf dem Centre Court so wohl wie Roger Federer. Als auf der Anlage 2001 die Rasenbeläge geändert wurden, passte sich auch das Spiel an. Roger hatte das ideale Timing. Er gewann 2003 seinen ersten von total acht Wimbledon-Titeln. Er prägte die neue Rasen-Ära, spielte variabler, mal von der Grundlinie, mal mit «Serve and Volley». Er stand sinnbildlich für diesen Wandel. Man kann darüber diskutieren, ob Roger der Beste aller Zeiten ist. Der Eleganteste aller Zeiten ist er aber allemal. Diese Anmut, gepaart mit dem schicken weissen Tenue und der Atmosphäre auf der Anlage, das ist eine einzigartige Kombination. Roger war der perfekte Spieler im perfekten Augenblick, um auf dem Centre Court das perfekte Tennis zu zelebrieren.»

No. 1 Court: «Vor dem Juniorentitel bettelte ich um ein Hotel»

«Das grösste Glücksgefühl, das ich in meiner Karriere je hatte, war der Juniorentitel in Wimbledon 1976. Das war auf dem «Einser», der damals noch kein eigenständiges Stadion war, sondern direkt an den Centre Court grenzte. Heute stehen hier der grosse Spielerkomplex und das Medienzentrum. Ich habe früher zu Hause mit meinem Bruder Markus immer Wimbledon gespielt, es war das einzige Turnier, das wir im Schwarz-Weiss-Fernseher verfolgen konnten. Dass auf Rasen gespielt wurde, merkten wir nicht einmal. (Schmunzelt) Die Vorstellung, hier zu gewinnen, war unglaublich. Und ich wusste irgendwann, dass ich gut genug dafür wäre, schliesslich hatte ich auch schon in Roland Garros triumphiert. Also ging ich mit 17 zum Schweizer Tennisverband und bettelte um ein Hotel, denn ich hatte kein Geld und wollte die Jugendherberge unbedingt vermeiden. Ich sagte damals zu Präsident Heinz Grimm: «Weisst du, ich will das Turnier gewinnen.» Er schaute mich schräg an und gab mir zu verstehen, dass man das als Schweizer doch nicht sage. Doch ich holte tatsächlich den Titel und erfüllte mir schon mit 17 meinen Kindheitstraum.»

Der Aorangi Park: Steffi Grafs Schleichweg

«Hier ist das Trainingsgelände der Wimbledon-Stars. Steffi Graf hatte für die zwei Turnierwochen jahrelang jeweils ein Haus gemietet, das unmittelbar an den Aorangi Park grenzte. Es war so nahe, dass sie nur das Gartentürchen öffnen musste und schon war sie daheim. Als sie dann 1992 den Final gegen Monica Seles spielte, wurde dieser mehrfach wegen Regens unterbrochen. Da ging Steffi in den Pausen einfach ins Haus zurück. Und ich, als noch ungekrönter Coach, ging ihr nervös hinterher und überlegte mir, wie wir nun ein paar Worte wechseln würden, um die Situation zu entspannen. Doch was machte sie? Sie sass da und unterschrieb Autogrammkarten. In einer Seelenruhe. Da habe ich realisiert, dass sie ihre Nerven deutlich besser im Griff hat als ich. Wenig später holte sie ihren vierten Wimbledon-Titel.»

Court 18: Über 11 Stunden purer Wahnsinn

«John Isner (USA) und Nicolas Mahut (Fr) hörten 2010 einfach nicht auf, Tennis zu spielen. Natürlich haben wir auch bei SRF zu diesem Match geschaltet. Und das Witzige daran war: Es stand gerade 30:30. Nur handelte es sich dabei nicht um die Punkte in einem Game, sondern um die jeweils gewonnen Games im fünften Satz! Es war ein Marathonspiel, das über drei Tage verteilt ausgetragen wurde. Am Ende setzte sich Isner nach 11 Stunden und fünf Minuten durch. Er siegte mit dem Wahsinnsresultat von 6:4, 3:6, 6:7 (7:9), 7:6 (7:3), 70:68. Beide konnten irgendwann kaum mehr den Arm heben.»

No. 3 Court: Der Friedhof der Champions

«Dieser Platz hiess früher No. 2 Court – und er war überhaupt nicht beliebt. Warum? Weil der Ball aus irgendwelchen Gründen viel tiefer absprang. Das hat dazu geführt, dass hier regelmässig grosse Namen rausgeflogen sind: John McEnroe, Jimmy Connors, Andre Agassi, Serena Williams oder wie sie alle hiessen. Darum wurde der Platz irgendwann mit einem Friedhof verglichen und «Graveyard of Champions» genannt. Heute ist er wieder etwas populärer, weil der Platz besser ist und weil man immer noch vom Spieler-Restaurant direkt auf den Rasen herunterschauen kann. Man merkt jeweils schnell: Wenn etwas los ist, tummeln sich plötzlich viele Stars am Fenster.»

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