Der griechische Adonis – der Gott der Schönheit – wird als wunderschöner Jüngling beschrieben. Jung ist er, erst 22 Jahre alt. Das Aussehen ist natürlich Geschmacksache – aber für diejenigen, die auf den Typ Beach- oder Hippie-Boy mit langem, wehenden Haar und wildem Blick stehen, bietet der muskulöse, 1,93 m grosse Stefanos Tsitsipas schon allerhand Attribute.
Wunderschön ist aber sicher auch sein Tennis. Die Weltnummer 5 spielt abwechslungsreich, ideenreich, hat zweifellos ein unglaublich talentiertes rechtes Händchen, das die Rückhand – was in der jungen Generation selten ist – wie Roger Federer einhändig spielt. Tsitsipas hat es damit schon zu sieben ATP-Titeln geschafft, 2019 gar zum Sieg der ATP-Finals in London. Und nun in Paris in seinen ersten Grand-Slam-Final – als erster Grieche überhaupt. Das alles macht ihn in seiner Heimat zur Ikone.
Würde er heute in Roland Garros gar die Weltnummer 1, Novak Djokovic, schlagen, der am Freitag mit bestechendem Spiel niemand geringeren als Sandkönig Rafael Nadal aus seinem Reich verbannt hat, wäre er ein neuer griechischer Gott. Aber der Aufstieg bis zu dieser Himmelspforte wird ein unermesslicher Kampf gegen die Schwerkraft.
Ein Mann mit vielen Gesichtern
Seinen 19. Major-Titel im Visier, hat sich der 34-jährige Serbe in den letzten beiden Wochen kontinuierlich bis zum nach eigenen Aussagen «besten Match meiner ganzen Karriere auf Sand» gesteigert. Kann er dieses Niveau halten, dann Gnade dem Gegner. Tsitsipas konnte schon zwei Hartplatzduelle gegen den «Djoker» gewinnen, aber er weiss von fünf Gelegenheiten, wie es sich anfühlt, zu verlieren.
Dabei kann gerade sein schönes Spiel bei seiner göttlichen Mission zum Schwachpunkt werden. Artistische, vielseitige Spieler hätten das Problem, sich in brisanten Momenten aus einem vielseitigen Schlagrepertoire entscheiden zu müssen, sagt TV-Experte Boris Becker. «Das führt manchmal dazu, dass du deine Linie verlierst – und dann das Spiel.»
Leistet sich Tsitsipas gegen Djokovic nicht die kleinste Schwäche, dann hat er das Zeug zum grossen Coup, meint sein gelegentlicher Coach Patrick Mouratoglou, in dessen Akademie der hauptsächlich von Vater Aposotolos betreute Athener gelegentlich trainiert. Der Franzose schwärmt: «Stefanos hat das Gesamtpaket, um die Tenniswelt zu erobern. Er ist cool, er ist kreativ, er hat fast immer die richtige Lösung für ein Problem.» Diesen Bonus sieht auch Mats Wilander im Adonis. «Er hat in jedem Moment viele Optionen, hat stets das Zeug, dich zu überraschen und auf dem falschen Fuss zu erwischen», so der Schwede. «Er ist im besten Sinne ein Mann mit vielen Gesichtern.»
Influencer und Hobby-Philosoph
Das ist Stefanos Tsitsipas tatsächlich, auch neben dem Court. Seine Tränen beim Interview nach dem French-Open-Halbfinalsieg gegen Alexander Zverev (De) offenbarten seine sensible Seite. Seine Worte drückten Überwältigung, aber auch Demut aus. Überhaupt ist der Charakterkopf ernster, als er aussieht. Unter seinen Laver-Cup-Kollegen integrierte er sich 2019 in Genf gut, wirkte aber stets einen Zacken seriöser als der Rest des europäischen Showteams um Federer, Nadal und Co.
Dass seine Welt nicht nur aus Tennis besteht, zeigt der Adonis seinen Jüngern auch regelmässig im sozialen Netz. «Wild und frei» oder «Sei ein Rebell» lauten die Mottos des leidenschaftlich an Foto- und Video-Technik interessierten Influencers. Indem er sich auf seinem Youtube-Kanal um die Verunreinigung der Meere, den Klimawandel und die Zerstörung der Amazonas-Region sorgt oder die Naturphänomene Islands bewundert, zeigt Tsitsipas als nachdenklicher Hobby-Philosoph aber auch seine ehrfürchtige Seite.
Einer seiner Lieblingsbotschaften: «Wenn du gross denkst, kannst du auch Grosses erreichen.» Heute, Stefanos, ist der Tag, übermächtig zu denken.