Das Schweizer Fernsehen hat gross angerichtet. Innerhalb von fünf Tagen wurden die Berner Bea-Hallen in ein TV-Studio umgewandelt. 1125 Gäste sind zu den «Sports Awards» geladen, acht Kameras fangen die Emotionen ein. Am Ende der Veranstaltung stehen sie da mit ihren Pokalen: Natascha Badmann, Simon Ammann, Myriam Casanova. Myriam wer?
Es ist Samstag, der 14. Dezember 2002. Der Abend, an dem Myriam Casanova zur Schweizer Newcomerin des Jahres ausgezeichnet wird. Die Teenagerin hat eine unglaubliche Saison hinter sich. Sie kletterte in der Weltrangliste von Platz 346 in die Top 60. Sie spielte in Wimbledon auf dem Center Court. Sie gewann ihr erstes WTA-Turnier – dank eines Sieges gegen die ehemalige Weltnummer 1 Arantxa Sanchez Vicario.
Die Sportinformation schreibt an jenem Tag der «Sports Awards»: «Die Chancen stehen gut, dass die Fans sich an der Newcomerin des Jahres noch lange freuen können.» Was Casanova zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Sie hat, trotz ihrer erst 17 Jahre, die Höhepunkte ihres Tennis-Lebens schon hinter sich. Und ihre Karriere wird in zwei Jahren bereits wieder zu Ende sein. Nie zuvor und danach hat eine Schweizer Sportlerin einen solch steilen Auf- und Abstieg erlebt.
Auf Diät gesetzt
Knapp 18 Jahre sind seit diesem glamourösen Abend vergangen. Jetzt sitzt sie in Lüchingen SG im Bistro des Vitalis Sports, einem Sportcenter, das ihre Eltern vor 40 Jahren gegründet und erfolgreich aufgebaut haben und dessen Co-Geschäftsführerin sie mittlerweile ist. Der Glamour und die Öffentlichkeit, sie sind weit weg, ihre Vergangenheit aber, die ist nah. Ganz nah, denn auf diesen Tennisplätzen hier hat sie mit vier Jahren zu spielen begonnen. «Jetzt stehe ich pro Jahr vielleicht noch zweimal je eine halbe Stunde auf dem Platz», sagt sie, «ich habe auch kein Bedürfnis mehr danach».
Die Geschichte der mittlerweile 35-Jährigen ist eine über Druck und Erwartungen. Über psychische Probleme und Übergewicht. Darüber reden kann sie jetzt, weil sie heute glücklich ist. Dem war nicht immer so.
Myriam und ihre ein Jahr ältere Schwester Daniela kommen früh mit dem Tennis in Berührung. Ihr Vater Leo ist ausgebildeter Tennislehrer und wird schnell einmal der Coach der beiden Mädchen. Myriam ist talentiert, feiert als Juniorin erste Erfolge. «Ich spielte einfach Tennis. Da wir im Sportcenter wohnten und mein Vater Tennislehrer war, bin ich da reingerutscht.»
Vergleich mit der grossen Martina Hingis
Mit 14 Jahren gibt Myriam ihr Debüt auf der WTA-Tour. Sie träumt von Turniersiegen und Teilnahmen an den Grand Slams. Sie mag den Glamour, den der Spitzensport mit sich bringt. Fühlt sich zu Beginn in dieser Scheinwelt wohl. Findet es erstrebenswert, bekannt zu werden. Wird mit der grossen Martina Hingis verglichen. «Zu diesem Zeitpunkt war ich noch immer unbekümmert und habe mir kaum Gedanken gemacht. Ich ging einfach auf den Platz, machte mein Ding – und gut war. Das war wohl ein Grund, weshalb ich so früh so gute Resultate erzielt habe.»
2002 schafft sie den Durchbruch. Erster Turniersieg. Schweizer Newcomerin des Jahres. Rampenlicht, Homestorys. Das volle Programm. Casanova steht vermeintlich vor einer grossen Karriere. Doch die Probleme, sie kommen schnell einmal. Der Körper der damals 17-Jährigen entspricht nicht dem Idealbild einer Spitzensportlerin. Ein gefundenes Fressen für die Medien und die Lästerer. «Casanova muss zur Fitness-Kur» oder «Myriams schwerer Kampf», titeln die Zeitungen. Und in Internet-Foren wird offen über ihre Extrakilos abgelästert.
Ein Teufelskreis beginnt. Die Casanovas vermelden, dass Myriam unter einer seltenen Stoffwechselkrankheit leide. Deshalb wird sie auf Diät gesetzt. Sie darf täglich nur noch 850 Kalorien zu sich nehmen. Obwohl sie bis zu sieben Stunden täglich trainiert, nimmt sie trotzdem nicht ab.
Röckchen zupfen während des Ballwechsels
Casanova und ihr Umfeld ergreifen jeden Strohhalm, sei er noch so absurd. Ein Guru etwa rät, sie solle ab sofort jeden Tag nur noch drei Liter Milch trinken und nichts mehr essen. Sie versucht es und erleidet nach drei Wochen beinahe einen Kollaps.
Längst beschäftigt sie das Thema Gewicht auch auf dem Platz. «Es kam vor, dass während Ballwechseln das Röckchen raufrutschte und dadurch der Oberschenkel rausgeschaut hat. Dann habe ich beim Spielen das Röckchen wieder zurechtgezupft.»
Bei einem Turnier in den USA wirds besonders schlimm. «Ich wollte vor einem Spiel nicht mehr raus auf den Platz, weil ich mich so nicht zeigen wollte. Mein Vater meinte, das ginge doch nicht, da wir so weit gereist sind. Also ging ich trotzdem raus und verlor.»
Nach ihrer Erstrundenniederlage an den US Open 2004 ist für sie klar: Das wars! Ich kann und will nicht mehr! «Nach diesem Match sagte ich mir: Ich habe die Schnauze voll und nahm innerlich Abschied vom Tennis.»
Hängematte und Zitronenbäume in Ecuador
Casanova nimmt sich eine Auszeit. Reist zu ihrem Onkel nach Ecuador, der dort als Pfarrer in einer katholischen Mission arbeitet. Eine schöne, unbeschwerte Zeit. Sie giesst Zitronenbäume, liegt in der Hängematte und schaut den Leguanen zu, wie sie von den Bäumen purzeln. Sie wagt erste Fahrversuche, obwohl sie noch gar keinen Führerschein hat.
Nach ihrer Rückkehr wagt sie ein erstes Comeback. «Ich dachte mir, es kann doch nicht sein, dass ich mit 19 Jahren aufhöre. Ich hatte einfach die Hoffnung, dass ich die Lust wiederfinde.» Doch die Luft ist draussen. Im Fed Cup verliert sie 0:6, 0:6. In 38 Minuten! «Da wusste ich, dass ich den Tritt nicht mehr finden werde. Auch emotional hat sich alles gegen eine Fortsetzung der Karriere gesträubt.» Dies merkt auch ihre Familie, die sie dann in ihrem Entscheid, aufzuhören und eine Lehre zu beginnen, bestärkt.
In den Jahren danach kehrt sie noch einige Male zurück und feiert dabei auch Erfolge bei kleineren Turnieren. Auch, weil sie noch nicht weiss, was nach dem Karriereende kommen soll. «Ich kannte nichts anderes als Tennis. Deshalb habe ich immer mal wieder ein Comeback gewagt. Doch rückblickend weiss ich: 2004 hat zu viel kaputtgemacht.»
«Ich bin niemandem böse»
Myriam Casanova redet mittlerweile seit einer Stunde über ihre Karriere als Profispielerin. Sie lacht dabei, auch wenn einige Ereignisse eigentlich zum Heulen wären. Heute weiss sie, dass das Übergewicht nicht von ungefähr kam und nicht das Ergebnis einer Stoffwechselkrankheit war. «Mein Übergewicht war zuerst nur ein Symptom, nachher wurde es zur Ursache. Wegen meinen psychischen Problemen konnte ich gar nicht abnehmen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich es trotz diesen körperlichen Defiziten so weit gebracht habe.»
Die wahren Gründe, sie hingen mit ihrer Psyche zusammen. Der Druck, die Medien, die Lästereien. Das alles prasselte auf die unsichere Teenagerin nieder. Ihr subjektives Gefühl damals: Die ganze Welt schreibt über ihr Aussehen und jeder darf ungefragt seinen Senf dazugeben. «Ging ich zu der Zeit an die Olma, ass ich bestimmt keine Bratwurst. Weil ich glaubte, alle würden schauen. Ich wurde fast schon paranoid.»
Dass ihre Eltern über eine Million in die Karriere von Myriam investiert hatten und ihr eigenes Leben zu einem grossen Teil aufgaben, auch das spielte eine Rolle. Zumal Myriam nach dem verletzungsbedingten Rücktritt von Daniela 2003 die einzige sportliche Hoffnung der Familie war. «Ich bin niemandem böse», sagt Myriam rückblickend, «auch für sie war es eine schwierige Situation. Und auch sie wussten nicht, wie man damit umgehen soll.»
Casanova redet hier so offen über ihr Leben, weil sie damit auch anderen Menschen Mut machen möchte. Gerade in Zeiten von Social Media, Leistungsdruck und dem Streben nach dem perfekten Körper. «Zum Glück gab es zu meiner Aktivzeit die sozialen Medien noch nicht. Sonst wäre ich wohl damals von der Brücke gesprungen.»
Casanova ist stolz auf sich
Aus der unsicheren Teenagerin von damals ist eine selbstbewusste Frau geworden. Heute führt sie zusammen mit ihrer Schwester Daniela das Sportcenter. Ist Mami von zwei Mädchen im Alter von zwei und vier Jahren. Hat Kurse besucht, um ihre Psyche besser verstehen zu können. Hat ein abgeschlossenes Betriebswirtschaftsstudium und ist diplomierter Ernährungscoach und Fitnessinstruktorin.
Sie blickt mit Abstand versöhnlich auf ihr früheres Leben zurück. «Ich bin stolz, dass ich aus meinem Tief herausgefunden habe, und schaue auch nicht verärgert zurück. Das ist ein Teil von mir und meinem Leben. Und hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin.»