Es ist der schlimmste Moment in der jüngeren Abfahrts-Geschichte. Der Franzose David Poisson fliegt am 13. November 2017 bei einer Trainingsfahrt im kanadischen Nakiska mit über 100 km/h kurz vor dem Ziel derart heftig ab, dass zwei sogenannte B-Netze zu wenig Widerstand bieten können. Der Bronzemedaillengewinner der WM-Abfahrt von 2013 prallt deshalb frontal in einen Baum und stirbt im Alter von 35 Jahren.
Die Schweizer Abfahrer weilen zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in Nakiska, welches knapp eineinhalb Autostunden von der Olympia-Stadt Calgary entfernt liegt. Feuz, Janka und Co. wollen ihr Training unmittelbar nach den Franzosen aufnehmen. Nachdem die Swiss-Ski-Athleten vom schrecklichen Unfall von Poisson erfahren, wollen sie aber nur noch eines: ganz schnell weg von diesem Ort.
Cheftrainer Stauffer musste Alternative suchen
Beat Feuz übt damals in seiner Rolle als Weltmeister besonders viel Druck auf die Mannschaftsführung aus: «Wir können hier nicht weiter trainieren. Nur schon deshalb nicht, weil in unserem Hotel auch das Team Frankreich einquartiert sind. Und jedes Mal, wenn man dort einem Franzosen begegnet, denkt man automatisch an Davids Tod.»
Cheftrainer Tom Stauffer zeigt Verständnis für dieses Argument und macht sich auf die Suche nach einer Trainingsalternative. Er findet diese in Panorama. Hier können sich die Schweizer derart gut vorbereiten, dass Beat Feuz am 25. November 2017 erstmals in Lake Louise triumphiert!
Die schwere Rückkehr an den Ort des tödlichen Dramas
Kein Wunder, wollten sich die Skigenossen auch in diesem Jahr in Panorama auf den Speed-Auftakt nächste Woche in Lake Louise vorbereiten. Doch in British Columbia gibt es derzeit zu wenig Schnee. Deshalb trainiert die Swiss-Ski-Equipe mangels Alternativen nun doch wieder in Nakiska.
Beat Feuz kann sich erst nach einer längeren Diskussion mit seinen Coaches für eine Rückkehr zu diesem dunklen Fleck in den Rocky Mountains aufraffen. «Ich habe schon einige Jahre vor Poissons Unfall als junger Rennfahrer gemeinsam mit Carlo Janka die Erfahrung gemacht, dass man sich in Nakisha bezüglich der Sicherheit am absoluten Limit bewegt», erinnert sich der Emmentaler und hält fest, «dass mir deshalb der Gedanke an eine Rückkehr nach Nakiska am Anfang schwergefallen ist. Die Trainer haben mir dann aber versichert, dass sie sich die Bedingungen genau angesehen hätten und dass ein Training diesmal vertretbar sei.»
«Habe ein mulmiges Gefühl»
Trotzdem ist die Stimmung im Schweizer Lager bei der Anfahrt zum Mount Allen angespannt. «Ich habe ein mulmiges Gefühl im Magen», gibt der Zürcher Niels Hintermann zu. «Und ich will ja nicht wissen, an welcher Stelle David Poisson auf dieser Strecke in den Tod gestürzt ist, ansonsten kann ich hier nicht mehr schnell Ski fahren.»
Auch in der Magengrube von Speed-Cheftrainer Reto Nydegger beginnt es ordentlich zu kribbeln. Der Berner Oberländer erkennt zwar, dass genügend Fangnetze aufgebaut wurden. Er sieht aber auch, dass einige Netze zu nahe beim Wald stehen. Nydegger appelliert deshalb an seine Schützlinge, bei diesen Bedingungen mit viel Vernunft zu fahren. Der vierfache Abfahrts-Gesamtweltcupsieger Feuz pflichtet seinem Übungsleiter bei: «Man muss hier einfach das Risiko dosieren.»
Feuz liefert kurzen Schocker
In der ersten Stunde dieses Trainingstages geht alles glatt. Aber dann kommt bei einigen Schweizern am Pistenrand plötzlich Unruhe auf. Über Funk wird der Ausfall von Feuz vermeldet! Was ist passiert? Hat es unseren grössten Trumpf etwa heftiger erwischt? Der Kugelblitz gibt kurz darauf Entwarnung: «Ich bin hängen geblieben, was einen kurzen Ausrutscher zur Folge hatte. Einen Sturz konnte ich aber verhindern.»
Es ist also noch einmal alles gut gegangen. Beim Mittagessen werden die Schweizer an ein glorreiches Kapitel ihrer Ski-Geschichte erinnert – in der heimelig holzigen Lodge hängt ein Bild von Pirmin Zurbriggen, der 1988 in Nakiska Olympia-Gold in der Abfahrt gewann. Vor seinem Teamkollegen Peter Müller. Von David Poisson aber hängt in der gemütlichen Gaststube kein Erinnerungsfoto.