Darum gehts
In der Vitrine des Engadiners Dumeng Giovanoli lagert ein Schmuckstück, welches seit ein paar Tagen im Zentrum von Loïc Meillards Gedanken steht – die Medaille für den Sieg in der Slalom-Weltcup-Gesamtwertung. Es war am 7. April 1968, als sich der gelernte Koch aus Sils Maria beim Weltcupfinale in Heavenly Valley (USA) als erster und bislang einziger Schweizer die sportlich wertvollste Slalom-Trophäe sicherte.
«Heute erhält der Sieger einer Weltcup-Disziplinenwertung neben der Medaille eine kleine Kristallkugel. Zu meiner Zeit hat ausschliesslich der Gesamtweltcupsieger eine Kugel erhalten», erläutert Giovanoli, der neben fünf Weltcupsiegen bei der WM 1970 Bronze im Riesenslalom einfuhr. Dann hebt der mittlerweile 84-Jährige in seiner Schatzkammer einen bald sechzigjährigen Skischuh hervor. «Diesem Lange-Modell habe ich besonders viel zu verdanken!»
Schnelle Schuhe brachten «fette» Erfolgsprämien
Giovanoli denkt mit glänzenden Augen zurück an einen nächtlichen Freigang im März 1967 im US-Nobel-Skiort Aspen: «Ich sass an der Bar im Red-Onion-Club, welcher von zwei Schweizern geführt wurde. Zu später Stunde sprach mich einer der Barbesitzer an und zeigte auf einen Mann: ‹Kennst du ihn?› Ich schüttelte den Kopf. ‹Das ist Bob Lange, der Erfinder der berühmten Lange-Schuhe.› Ich habe Lange mit meinem Engadiner-Englisch angesprochen. Er reichte mir die Hand und fragte: ‹Willst du meine neuen Schalen-Schuhe ausprobieren?› Ich sagte, ohne zu zögern: ‹Yes.›»
Das spontane Bekenntnis zu Lange war der «Gamechanger» in Giovanolis Skirennfahrerlaufbahn. «Bis dahin war ich mit Raichle-Lederschuhen unterwegs. Der Wechsel auf die Lange-Schuhe hatte für mich denselben Effekt, wie wenn man einen alten Ski mit einem Carver eintauscht.» Der vierfache Familienvater gibt zu, dass ihm dieser Transfer neben sportlichen Erfolgen auch einige Tausender eingebracht hat, obwohl Skirennfahrer damals offiziell den Amateur-Status getragen haben: «Bei den Verhandlungen mit Lange durfte ich zwischen einem Jahresfixum von 10'000 Franken und einem Prämienvertrag entscheiden, bei dem ein Weltcupsieg mit 3000, ein zweiter Rang mit 2000 und ein dritter Platz mit 1000 Franken belohnt wurde. Ich habe mich für den Prämienvertrag entschieden.»
Die Schuhe waren jedoch Giovanolis einzige Einnahmequelle. Bei den Rennen hat es ausschliesslich Sachpreise gegeben. «Als ich 1963 auf der Lenzerheide die Abfahrt beim internationalen Philips-Derby gewonnen habe, wäre mir ein riesiger Fernseher, der von vier Männern zur Siegerehrung getragen wurde, zugestanden. Aber weil wir damals im Engadin noch gar keinen Fernsehempfang hatten, habe ich einen Plattenspieler mit nach Hause genommen …»
Schmerzliche Stunden
Wie aktuell im Skizirkus über mangelnde Sicherheit debattiert wird, kommen bei Giovanoli Erinnerungen an die Zustände in seiner Aktivzeit auf: «Wenn wir gestürzt sind, sind wir nicht in einem Fangnetz, sondern in einem Holzzaun gelandet. Und die Erstversorgung war gelinde formuliert mangelhaft.» Der Wengen- und Kitzbühel-Sieger von 1968 liefert ein Beispiel: «Nachdem ich bei der Abfahrt in Cortina gestürzt und mit einer Knieverletzung liegen geblieben war, wurde ich von den Sanitätern mit der Tragbahre in einen Citroën hineingeschoben. Aber anstatt mich so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu bringen, hat der Fahrer abgewartet, bis die Startnummer 30 im Ziel war. Als ich ihn, von starken Schmerzen geplagt, fragte, warum er nicht endlich losfahren würde, antwortete er trocken: ‹Vielleicht stürzt ja noch ein Kollege von dir, dann können wir den auch noch mitnehmen.›»
Der tapfere Dumeng musste an diesem Tag noch sehr viel länger auf die Zähne beissen: «Als der Arzt im Spital auf den Röntgenaufnahmen sah, dass ich Bänderverletzungen erlitten hatte, gipste er mein ganzes Bein ein. Ich wurde zurück ins Mannschaftshotel gebracht, wo ich mit meinem Cousin Gian Reto Giovanoli ein Zimmer teilte. Weil sich unter dem Gips starke Schwellungen entwickelt hatten, bat ich Gian Reto gegen 22 Uhr vor lauter Schmerzen, dass er mir mit dem Sackmesser den Gips aufschneidet. Damit ich für diesen Spezialeingriff den Effekt einer Narkose hatte, drank ich eine halbe Flasche Grappa.»
Meillard winken neben der Kugel Giovanolis Köstlichkeiten
Aufgrund dieser Erzählungen dürfte es niemanden erstaunen, dass Giovanoli 1970 seine Rennfahrerlaufbahn wegen schwerer Kniebeschwerden beenden musste. Im betagten Alter hinterlässt der zweifache Grossvater aber einen erstaunlich fitten Eindruck. Giovanoli fährt immer noch regelmässig Ski. Und jeden Mittwoch steht er in seinem Hotel Privata am Küchenherd und verwöhnt seine Gäste mit lokalen Spezialitäten. Giovanoli spricht eine besondere Einladung aus: «Wenn Loïc Meillard am Donnerstag den Slalom-Weltcup gewinnen sollte, würde ich auch ihn gerne bekochen.»
Vor dem finalen Slalom liegt Meillard 47 Punkte hinter Henrik Kristoffersen. Die Kristallkugel und eine feine Mahlzeit bei Giovanoli erhält Meillard dann, wenn er im Sun Valley triumphiert und Kristoffersen nicht in die Top 3 fährt.