Odermatt über die Schattenseiten des Erfolgs
«Die normalsten Dinge werden für mich kompliziert»

Vier neue Kugeln, total 37 Weltcupsiege und ein unstillbarer Ehrgeiz – Marco Odermatt hält die Skiwelt weiter in Atem. Der Druck ist gross, doch «Odi» bleibt cool – und strebt nach seinem letzten fehlenden Titel.
Publiziert: 04.12.2024 um 16:06 Uhr
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Aktualisiert: 05.12.2024 um 07:34 Uhr
Wer strahlt am schönsten? Marco Odermatt mit seinen vier gewonnenen Kristallkugeln der Saison 2023/24.
Foto: Joan Minder
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Yara Vettiger
Schweizer Illustrierte

Vier Kristallkugeln thronen auf Marco Odermatts (27) Schoss. Es sind die vier, die er in der vergangenen Saison gewinnen konnte: Gesamtweltcupsieger sowie Disziplinensieger in der Abfahrt, im Super-G und im Riesenslalom! Es ist eine Kugel mehr als in der Saison davor. Odermatt kann seine Beute kaum halten. Die Kugeln sind schwer. Etwas unbeholfen probiert er, mit ihnen zu posieren.

Nun, dieses Problem hatte schon ein anderer: «Herminator» Hermann Maier. «Odi» hatte vor zwei Jahren, beim Gewinn der ersten Kugel, mit dem österreichischen Überflieger über die wertvollen Trophäen gesprochen. «Hermann sagte, es sei ein tolles Gefühl, wenn man die gewonnenen Kugeln nicht alle zusammen in den Händen halten könne», erzählte Odermatt später im Gespräch mit Red Bull über diese Begegnung. Inzwischen ist der 27-Jährige selbst an diesem Punkt.

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Neun Glastrophäen kann er insgesamt sein Eigen nennen. «Meine Lieblingskugel ist die kleine für den Abfahrtssieg. Es war ein grosser Traum, diese zu gewinnen.» Seine Pokale und Medaillen bewahrt er bei seinen Eltern auf. Sein altes Kinderzimmer wurde in ein Pokalzimmer umfunktioniert. Ein paar seiner Auszeichnungen seien auch im Estrich. «Nach der letzten Saison hat es keinen Platz mehr im Zimmer. Wenn alles nach Plan läuft, muss ich nach diesem Winter wohl eine neue Lösung suchen», sagt der Skistar verschmitzt. Und strahlt seine kristallenen Schätze liebevoll an.

Die Favoritenrolle lieben gelernt

In diesem Winter werden wieder alle Augen auf Marco Odermatt gerichtet sein – wie schon in den letzten drei Jahren. Mit 37 Weltcupsiegen, 71 Podestplätzen, zwei Weltmeistertiteln und Olympiagold hat sich «Odi» zum absoluten Ski-Superstar gemausert. Er hat seine Fans in den letzten Jahren so sehr mit seinen Erfolgen verwöhnt, dass sie nun erwartet werden. Schneidet er schlecht ab – und damit ist alles ausser dem ersten Platz gemeint – wundert sich das Publikum.

An diese Favoritenrolle musste sich der Skicrack erst gewöhnen. «Am Anfang war es ein bisschen belastend. Ich war noch sehr jung und musste schnell reif werden.» Mittlerweile sei er aber gern der Favorit, ja, er gehe sogar regelrecht in dieser Rolle auf: «Es gibt einen Grund, warum ich in dieser Position bin. Ich mag sie mittlerweile, sogar sehr.» Marco Odermatt muss sich niemandem mehr beweisen. Er hat schon mehr gewonnen, als er sich jemals erträumt hätte. Das nimmt ihm den Druck, der als Liebling der Massen auf ihm lastet. «Irgendwann werde ich schlechter werden, das ist klar, aber bis es so weit ist, geniesse ich es einfach.»

Immer den Erfolg im Blick: Die Trophäen stehen in seinem alten Kinderzimmer bei seinen Eltern.
Foto: Joan Minder

Während «Odi» auf der Erfolgswelle reitet, können andere seinem Treiben nur staunend zuschauen. Neid unter den Skikollegen kennt «Odi» aber nicht. Der Konkurrenzkampf mit Loïc Meillard sei am grössten, aber er vergifte den Teamspirit nicht. Sein engster Kreis besteht aus den drei Riesenslalomfahrern Justin Murisier, Gino Caviezel und Thomas Tumler. Sie seien auch seine besten Freunde.

«Natürlich kämpft jeder für sich allein. Aber trotzdem helfen wir uns gegenseitig, sodass jeder seine Bestleistung erbringen kann.» Ein bisschen Eifersucht ausserhalb dieses Kreises habe er dennoch registriert. Das finde er normal. «Man spürt, dass einige mir die Erfolge mehr gönnen als andere. Aber das ist nur menschlich.»

«Die normalsten Dinge werden für mich kompliziert»

Der grosse Erfolg hat vor allem eine Schattenseite. Im Privatleben wird Marco Odermatt selten in Ruhe gelassen. Er, ein eher bodenständiger und zurückhaltender Bergler, liebt die Aufmerksamkeit auf den Schweizer Strassen nicht. «Man verliert die Anonymität komplett. Ob am Sonntagmorgen beim Brunch oder beim Abendessen mit der Freundin – die normalsten Dinge der Welt werden für mich kompliziert.»

Als kleiner Bub habe er nie davon geträumt, der Beste zu sein. Er machte das Gymnasium, war stets ein starker Schüler. Über seine Berufswahl musste er sich nie gross Gedanken machen: Er wollte einfach Ski fahren. Und das tut er. Früher habe es Zeiten gegeben, in denen er sich selber gegoogelt habe. Er muss lachen. «Das ist vielleicht fünf- bis zehnmal vorgekommen. Ganz am Anfang. Jetzt aber schon lange nicht mehr.»

Strahlemann und Topfavorit: Odermatt will dieses Jahr endlich Kitzbühel gewinnen.
Foto: Joan Minder

Was ist das Geheimnis seines Riesenerfolgs? Marco Odermatt überlegt lange, schaut in die Ferne. Und sagt dann: «Ich weiss es selbst nicht. Und wenn, dann würde ich es nicht verraten.» Er zwinkert. Seine Bodenständigkeit und Bescheidenheit erinnern an einen anderen Schweizer Superstar. Immer wieder wird er mit der Tennisikone Roger Federer verglichen. «Ski-Federer» wird er denn auch von einigen genannt.

Die Beziehung zu Federer

«Odi» stört sich keineswegs an diesem Vergleich, im Gegenteil: «Es ist für mich ein riesiges Kompliment. Durch seinen positiven Charakter war Roger Federer immer ein grosses Vorbild für mich.» Genau wie er selber eckt auch Federer fast nirgends an, kommt im ganzen Land gut an. Odermatt sagt: «Ich fühle mich nicht wie der zweite Federer, aber es ist schön, so was zu hören.»

Die Werbekampagne von Sunrise hat die beiden Megasportler zusammengebracht. In den «Behind the Scenes»-Videos können sie sich vor Lachen kaum halten. Odermatt erzählt: «Ich war am Anfang schon ein bisschen nervös, ihn zu treffen. Aber er ist wirklich genau so, wie man ihn sich vorstellt.» Die beiden hätten gute Gespräche geführt und viel gelacht. Privat haben sie keinen Kontakt. Inzwischen haben sie immerhin die Handynummern ausgetauscht und einander sogar ein paar Nachrichten geschrieben.

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Foto: zVg

Odermatt betont aber, dass sie beide vielbeschäftigte Sportler seien. «Es ist immer gut, wenn wir uns sehen. Aber wir wissen auch, dass der andere viel zu tun hat, und mischen uns nicht in das Leben des anderen ein.» Die wenige private Zeit, die «Odi» hat, verbringt er lieber mit seiner Familie oder seiner Freundin.

Der einzige Sieg, der ihm noch fehlt

In den nächsten fünf Monaten wird die private Zeit sehr knapp sein. Doch die Saison hat nicht erst mit dem ersten Rennen begonnen: Bereits mitten im Sommer starten die Vorbereitungen für den Winter. In seinen Trainings mag es Odermatt abwechslungsreich. Er löste sich im Frühling von seinem langjährigen Fitnesstrainer Kurt Kothbauer, im gegenseitigen Einvernehmen.

Seither setzt er auf den Spanier Alejo Hervas. Dieser war fünf Jahre lang an der Seite von Lara Gut-Behrami, habe dann für sich entschieden, lieber ins Männerteam zu wechseln. Marco Odermatt fühlt sich wohl mit dem Spanier. «Es gab leichte Veränderungen im Training und neue Inputs. Es ist ein gutes Gefühl.»

«Odi» will in der kommenden Saison seine beiden WM-Titel im Riesenslalom und der Abfahrt verteidigen. Aber es gibt da eben noch etwas. Und das nagt ein bisschen an ihm. Einer wie «Odi» kann das nicht so stehenlassen. Es geht um diese eine Abfahrt, die härteste der Welt, eine Abfahrt, die Legenden hervorbringt: die Streif in Kitzbühel! Sein grosses Ziel bleibt der Sieg auf dieser Strecke. Bis jetzt wurde dieser ihm verwehrt. Im letzten Winter wurde er Zweiter. «Es ist der einzige und letzte Sieg, der mir noch fehlt.»

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