Seite an Seite stehen Loïc (28) und Mélanie Meillard (26) beieinander und zupfen gegenseitig an ihren Skianzügen herum. Soeben haben sie die offizielle Teambekleidung für die neue Saison erhalten. «Du siehst aber chic aus», neckt Loïc seine zwei Jahre jüngere Schwester. Die beiden fangen an, zu kichern. Auf die Frage, wie oft sie sich streiten, werfen sie einander einen vielsagenden Blick zu – und prusten abermals los. «Nie!», sagt Mélanie. Und Loïc fügt an: «Warum auch?»
Das Geschwisterpaar sieht sich während der Wintersaison nicht oft. Loïc, der alle Disziplinen ausser Abfahrt fährt, trainiert anders als seine Schwester, die im Slalom und Riesenslalom unterwegs ist. In seiner Karriere stand er bereits 21 Mal auf dem Podest und feierte vier Weltcupsiege. Mélanie ist zweifache Schweizer Meisterin im Slalom und gewann bei den Olympischen Jugendspielen in Lillehammer 2016 Gold im Riesenslalom und Silber in der Kombination. Nach einem vielversprechenden Einstieg in den Weltcup erlitt die junge Sportlerin einen herben Rückschlag. Ein Kreuzbandriss und ein Teilabriss des inneren Seitenbandes nach einem Sturz im Training zu den Olympischen Spielen 2018 stoppten die junge Sportlerin, der Weg zurück verlief zäh.
Zwei Karrieren, ein Ziel
«Es tut sehr weh, wenn der andere stürzt», sagt Loïc, «man weiss genau, wie er sich dann fühlt.» Vor und nach jedem Rennen melden sie sich beieinander – auch wenn es nur eine kurze Nachricht ist. Wenn einer gestürzt ist oder eine Niederlage einstecken musste, müssen sich die Geschwister vor dem eigenen Start trotzdem fokussieren. «Das fällt manchmal schwer. Aber wir sind Profis, damit muss man umgehen können.» Dass die Geschwister beide professionell Ski fahren, hat ihre bereits innige Beziehung nochmals verstärkt. Mélanie schaute schon früh zu ihrem grossen Bruder auf. Was er machte, wollte sie auch machen. «Wir haben sehr unterschiedliche Karrieren. Aber die Technik habe ich sicher von ihm gelernt.» Und Loïc ergänzt: «Es ist einfach schön, jemanden aus der Familie in diesem Zirkus zu haben.»
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Das tiefe Verständnis für den anderen gibt ihnen Kraft in der strengen Saison. Ein Konkurrenzkampf der beiden sei ausgeschlossen, sagen sie unisono. «Es kann manchmal auch einen schlechten Tag bei mir retten, wenn er gewinnt», fügt Mélanie an. Anstatt sich zu vergleichen, schauen sie sich lieber Dinge voneinander ab. Loïc beneidet seine kleine Schwester um ihr Gefühl auf den Ski und ihre hohe Geschwindigkeit. Und Mélanie hätte gerne Loïcs Ruhe und Ausgeglichenheit.
Privat reden die Geschwister selten über den Sport. «Wenn wir gleichzeitig zu Hause sind, sprechen wir vielleicht fünf Minuten über das Skifahren, dann sind wir einfach Loïc und Mélanie», so Loïc, und seine Schwester nickt. Im Sommer verbringen sie oft Zeit zusammen und trainieren auch ab und zu miteinander. «Ich pushe Loïc – und er korrigiert mich», sagt Mélanie, und beide lachen wieder. «Als grosser Bruder ist das ja wohl meine Pflicht», entgegnet er.
Weihnachten im Januar
Wegen der unterschiedlichen Rennpläne ist für die Familie nie klar, wann sie Weihnachten feiern kann. Loïc ist oft noch bis kurz vor dem Fest unterwegs. «Manchmal feiern wir erst im Januar. Einfach dann, wenn Mélanie und ich beide zu Hause sind.» Ihre Eltern und Grosseltern sind ihre grössten Supporter. Geboren sind Loïc und Mélanie in Bôle im Kanton Neuenburg. Als sie zwölf und zehn Jahre alt waren, zog die Familie nach Hérémence im Wallis, um mehr Trainingsmöglichkeiten zu haben. «Unsere Familie geniesst es, dass wir beide im selben Sport tätig sind. Es verbindet uns einfach alle», erzählen sie.
Mélanie konnte ihre Form zuletzt Jahr für Jahr steigern, diese Saison soll das nicht anders sein. Der grosse Bruder will in diesem Winter vor allem Konstanz zeigen. «Ich möchte vom Beginn bis zum Ende der Saison mein bestes Skifahren zeigen. Es geht nicht immer ums Gewinnen.» Es gebe Tage, da packe er sein bestes Können aus und werde «nur» Vierter. Dann sei er trotzdem zufrieden. Ebendieses Gefühl von «Ich habe alles getan» wolle er in dieser Saison so oft wie möglich erleben.
Und welcher der beiden ist der bessere Verlierer? «Als Sportler lernst du, mit Niederlagen umzugehen. Es kann nur ein paar Stunden, aber auch mal Tage dauern. Doch wir können das beide gut.» Bei Gesellschaftsspielen sei es aber Mélanie. «Ich muss ja fast: Loïc gewinnt da viel öfter als ich.» Und wovon träumen die Meillards? «Von einer Medaille bei der WM», so Mélanie. «Und bei Olympia.» – «Ich träume generell gross», gesteht Loïc. «Du hast doch schon so viel geschafft!», meint seine kleine Schwester. «Aber ich will mehr», kontert ihr grosser Bruder. Beide lachen. Zwei Geschwister, die denselben Traum leben und sich den Rücken stärken – jeder auf seinem Weg, aber immer verbunden durch das, was sie am meisten lieben. «Ich gönne ihr alles Glück der Welt», sagt Loïc. Und Mélanie fügt an: «Hoffentlich bleiben wir diese Saison beide gesund.»