Die Caviezel-Brüder werden gerade ordentlich durchgeschüttelt. Ausschlaggebend für die Turbulenzen ist die spektakuläre Route, die sich Mauro und Gino an diesem heissen Sommertag für ihr Lauftraining ausgesucht haben. Die Bündner traben in ihrer Heimat über den Traversiner-Steg.
Je schneller die Caviezels laufen, umso mehr beginnt die atemberaubende Hängebrücke über der Viamala-Schlucht zu schwanken. Für den älteren der beiden hat diese Momentaufnahme Symbolcharakter. Eine schwere Gehirnerschütterung, die er bei einem Trainingssturz im Januar 2021 in Garmisch erlitt, hat Mauro ein Jahr nach dem glorreichen Triumph im Super-G-Gesamtweltcup komplett aus dem Gleichgewicht gebracht.
Im letzten Olympia-Winter konnte der 34-Jährige kein einziges Rennen bestreiten. «Ich komme auf der Skipiste viel früher ans Limit und in den Stress als zuvor. Und wenn ich in die Hocke-Position gehe, sehe ich ab einem gewissen Blickwinkel Doppelbilder», offenbarte er letzten November im Blick.
Marquez vermittelt Caviezel den Arzt
Nach unzähligen frustrierenden Stunden erlebt Mauro am Ende dieses Olympia-Winters dann aber doch noch einen echten Freudentag. Gino, der in der Vergangenheit vor allem im Riesenslalom Weltklasse-Leistungen zeigte, fuhr beim Weltcup-Final in Courchevel (Fr) mit dem dritten Rang seinen ersten Podestplatz im Super-G heraus. «Mauro hat einen grossen Anteil an meiner Entwicklung im Speed-Bereich», erklärt Gino, der am Donnerstag seinen 30. Geburtstag feierte. «Mauro hat von zu Hause aus jeden Wettkampf von mir genau analysiert und hat dabei Erkenntnisse gewonnen, die für mich Gold wert sind.»
In der Zwischenzeit hat Mauro einen Input erhalten, der seine Rennfahrer-Karriere retten könnte. Ein Input, der mit Ginos Zimmerkollege Justin Murisier und den beiden Töff-Superstars Marc Marquez und Daniel Pedrosa zusammenhängt.
Murisier erzählt den Anfang dieser aussergewöhnlichen Geschichte. «Gino hat mir im Winter immer wieder von Mauros Symptomen erzählt. Weil ich mich als leidenschaftlicher Motorrad-Fan intensiv mit der MotoGP beschäftige, bin ich zum Schluss gekommen, dass Mauro dasselbe Problem hat, welches eine Zeitlang auch Marc Marquez ausgebremst hat.»
Weil Murisier vor ein paar Jahren Marquez' ehemaligen Teamkollegen Daniel Pedrosa kennenlernte, hat er ihn um den Kontakt des achtfachen Weltmeisters gebeten. Mit Erfolg. «Ich habe Marquez angeschrieben und sehr schnell eine Antwort erhalten. Er hat mir ein Besuch bei seinem Arzt in Barcelona empfohlen», erzählt Mauro. Caviezel ist kurz darauf in die katalanische Metropole geflogen, wo ihm der Marquez-Arzt den Rat gegeben hat, neben einem neuen Augentraining die Kopfposition in der Rennhocke zu erhöhen.
«Ich habe ein gutes Gefühl»
«Auch Marquez hat nach seiner schweren Gehirnerschütterung die Position seines Kopfes mit Erfolg angepasst», weiss Murisier. Und auch Caviezel versprüht im Aufbautraining für den kommenden Winter viel Optimismus. «Bei den letzten Ski-Tests im Frühling hatte ich bereits ein gutes Gefühl. Und ich vertrage jetzt auch die Kraft- und Konditions-Trainingseinheiten besser als im letzten Jahr.»
Mauro weiss aber auch, dass der erste ultimative Belastungstest noch bevorsteht. «Ob sich mein Zustand wirklich entscheidend verbessert hat, werde ich erst wissen, wenn wir im Spätsommer in Chile im Abfahrts-Training Tempi von 130 Stundenkilometer erreichen werden.» Mauro und Gino werden voraussichtlich am 28. August mit den Swiss Ski-Kollegen nach Südamerika fliegen.