Welcher junge Schweizer kann in Zukunft den Alpin-Weltcup dominieren? Blick stellt diese Frage im Januar 2015 dem damaligen Swiss-Ski-Nachwuchschef Osi Inglin. «Ich traue Marco besonders viel zu. Er ist DER Aufsteiger der laufenden FIS-Saison», antwortet der Schwyzer.
Mit «Marco» meint Inglin zu diesem Zeitpunkt aber nicht etwa Marco Odermatt, sondern dessen Jahrgänger und Freund Marco Kohler. Der Meiringer absolviert zu diesem Zeitpunkt an der Sportmittelschule in Engelberg das KV und lebt dort mit «Odi» und Niels Hintermann in einer WG. Der Sohn eines Autogaragenbesitzers fällt in dieser Phase vor allem mit seinem Potenzial als Kombinierer auf – bei FIS-Rennen fährt er Siege in der Abfahrt und im Slalom ein. Doch am 14. Januar 2020 stürzt der Senkrechtstarter aus dem Haslital in Wengen in brutaler Manier.
Horrorsturz am Lauberhorn
Bei der Europacup-Abfahrt am Lauberhorn wird Marco Kohler Zwölfter. Vier Tage später wird er im Weltcup im Training der längsten Abfahrt der Welt als Vorfahrer eingesetzt. «Ich war richtig gut in Fahrt. Das Brüggli-S habe ich zum Beispiel vorher noch nie so gut erwischt wie an diesem Tag», erinnert sich der 24-Jährige.
Doch im Ziel-S passiert das Unglück. Kohler prallt in den Fangzaun und muss danach mit dem Helikopter ins Spital nach Interlaken geflogen werden. Am Tag danach erhält er die brutale Diagnose: Am linken Knie ist neben dem Kreuzband auch die Patellasehne sowie das Innenband gerissen. Im Meniskus ist ebenfalls ein Riss erkennbar.
Die Operationen verlaufen nach Plan. Trotzdem erntet Kohler von gewissen Medizinern skeptische Kommentare, was die Fortsetzung seiner Rennfahrer-Laufbahn anbelangt. «Ein Arzt hat mir deutlich gesagt, dass er sich nicht vorstellen könne, mit einem solchen Knie Leistungssport zu betreiben.»
Kohler kämpft dennoch weiter, absolviert den grössten Teil seiner Reha in Magglingen, wo er in den Genuss einer Spezialbehandlung kommt. «Meine Eltern und der Verband haben mir von Anfang an versichert, dass sie mich bei meinem Kampf zurück voll unterstützen. Diese Gewissheit hat mir enorm viel Kraft gegeben.»
Neuanfang beim Königsmacher
Doch im November 2020 kommen auch Kohler starke Zweifel auf, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist. Sein Knie muss mit Kortison behandelt werden. Aber anstatt einer deutlichen Verbesserung wird die Schwellung immer grösser.
In dieser Phase infiziert sich Kohler auch noch mit dem Coronavirus. Wie soll das jetzt weitergehen?
Kohler fährt nach Hause und nutzt die Reha-Pause, um auf ganz andere Gedanken zu kommen. Er arbeitet für ein paar Wochen im Büro des elterlichen Betriebs, bis er in Wilderswil BE einen Neustart bei einem echten Königsmacher lanciert. Die Rede ist von Roli Fuchs, der sich als Konditionstrainer der Schwingerkönige Kilian Wenger und Matthias Glarner sowie als Schleifer der Eishockey-Cracks des SC Bern einen grossen Namen gemacht hat.
«Roli hat schnell die perfekte Trainingsform für mein lädiertes Knie gefunden. Zudem hat es mir sehr gutgetan, dass ich das Konditions- und das Rumpftraining nicht mehr alleine, sondern mit einigen Schwingern absolvieren konnte. Das hat mich enorm inspiriert», sagt Marco.
Hilfe von Odermatt
Gut getan hat Marco Kohler auch der ständige Austausch mit seinem Namensvetter Odermatt. «Marco und ich stehen praktisch jeden Tag in Kontakt. Zurzeit hilft er mir vor allem im Material-Sektor. In diesem Bereich hat sich seit meinem Sturz in Wengen sehr viel getan. Aber weil Odi wie ich von Stöckli ausgerüstet wird, kann er mir genau sagen, welcher Ski, wie funktioniert.»
In diesen Tagen deutet einiges auf ein Happy End in dieser Leidensgeschichte hin. Letzte Woche hat Kohler auf dem Hoch-Ybrig einen Härtetest auf einer bezüglich Präparation dem Weltcup ähnlichen Trainingspiste absolviert. Der legendäre Franz Heinzer (59, Abfahrtsweltmeister von 1991), der Kohler als Europacup-Cheftrainer betreut, sagte danach: «Im letzten Frühling hatte Marco noch derart viel Wasser im Knie, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass er im Winter richtig Ski fahren kann. Doch in der Zwischenzeit hat er wirklich bereits wieder ein sehr beachtliches Niveau erreicht.»
Deshalb darf Kohler nächste Woche erstmals seit seinem üblen Crash in Wengen mit dem Europacup-Team zu einem Rennen anreisen. In Tarvisio stehen zwei Abfahrten auf dem Programm. Ob Marco Kohler in Italien als Rennfahrer oder als Vorläufer startet, wird Franz Heinzer erst nach den beiden Trainingsläufen entscheiden.