Sie wird Letzte, verliert in der Abfahrt mehr als sechs Sekunden, ist aber die vielleicht grösste Siegerin von St. Moritz: Alice Merryweather (27, USA). «So viel Angst hatte ich wohl noch nie in einem Rennen. Es war so dunkel. Aber das ist egal. Ich habe immer von diesem Tag geträumt. Es ist wie der Anfang eines neuen Lebens», sagt sie zu Blick.
Ihre grossen Gefühle kommen nicht von ungefähr. Fast vier Jahre lang bestritt ehemalige Junioren-Weltmeisterin in der Abfahrt kein Rennen. Vielmehr noch: Sie ging durch die Hölle. Warum?
Um das zu verstehen, muss man das Rad der Zeit auf den März 2020 zurückdrehen. Die Corona-Pandemie verbreitet Angst und bringt die Welt vielerorts zum Stillstand. Auch ihr Alltag als Sportlerin ist betroffen.
Keine Rennen, keine Trainings, kein Kontakt zu den Teamkolleginnen – Merryweather kommt mit dem Lockdown nicht klar. «Weil ich mir kaum noch Ziele im Sport setzen konnte, habe ich mir gesagt: ‹Ich sollte wirklich eine Diät machen. Das ganze Essen in europäischen Hotels hat dich fett gemacht, du siehst gar nicht mehr wie eine Sportlerin aus.›»
Nichts essen? Ein Zeichen der Stärke
Zu Beginn wiegt die 1,72 m grosse Athletin 68 Kilo. Ihr Ziel: Fünf Kilo abnehmen. Das schafft sie rasch.
«Wenn ich hungrig bin, dann ist da ein gutes Zeichen», redet sie sich ein. Sie überwindet das Hungergefühl, isst nichts oder nur wenig – in ihrer damaligen Vorstellung ein Beweis ihrer Stärke. «Ich habe lange nicht realisiert, dass ich ein Problem habe.»
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Als Merryweather im Herbst auf die Ski zurückkehrt, zeigt die Waage nur noch 57 Kilo an. Die Trainer reagieren sofort und schicken sie zum Arzt. Die Diagnose ist rasch gemacht: Sie leidet an einer Essstörung.
Ein Sturz zerstört ihr linkes Bein
Merryweather macht ihr Schicksal öffentlich, um das Thema zu enttabuisieren. Sie fällt den ganzen Winter aus, ist zuweilen im Spital, gesundet irgendwann und fährt auch wieder Ski.
Im September 2021 schlägt das Schicksal erneut zu: Sie stürzt beim Abfahrtstraining in Saas-Fee mit 125 km/h und erleidet einen Totalschaden im linken Bein. Schien- und Wadenbein brechen, im Knie reissen Kreuz- und Innenband. Auch der Meniskus ist futsch, ihr Gesicht ist vor lauter Schürfungen entstellt.
«Die Liebe ist zurückgekehrt»
Mehrere Operationen und Jahre vergehen. Rennen fährt Merryweather nicht mehr – bis zum Samstag in St. Moritz. 1379 Tage nach ihrem letzten Rennen steht sie wieder im Zielraum eines Weltcuprennens und hat Tränen in den Augen.
«Es ist, als hätte ich fast vier Jahre geschlafen und würde nun wieder aufwachen. Zwischenzeitlich habe ich die Liebe fürs Skifahren verloren, das gebe ich zu. Aber sie ist zurückgekehrt. Jetzt bin ich einfach nur stolz auf mich.»