Die Art und Weise, wie gewisse Österreicher in den letzten zwei Wochen mit Thomas Tumler (35) umgegangen sind, grenzt an Respektlosigkeit. Beispiele gefällig? Als der Samnauner am WM-Eröffnungstag gemeinsam mit Wendy Holdener, Delphine Darbellay und Luca Aerni für den Team-Wettkampf aufgestellt wurde, hat ein Austria-Radiosender von einem Schweizer B-Team gesprochen.
Obwohl Tumler in diesem Nationenrennen mit Siegen gegen Deutschlands Slalom-Giganten Linus Strasser (Viertelfinal) und den starken Amerikaner River Radamus (Halbfinal) die Silbermedaille gesichert hat, ist der 35-Jährige in der Gunst von Österreichs Alpin-Experten nicht gestiegen. Stephan Eberharter (55) hat am Donnerstagabend in seiner Kolumne für die «Kronenzeitung» neben den Top-Favoriten Marco Odermatt, Alexander Steen Olsen und Loïc Meillard zehn weitere Athleten als Medaillenanwärter im WM-Riesenslalom genannt. Der Name von Tumler war beim Riesenslalom-Olympiasieger von 2002 nicht auf der Liste.
Das Motto «Fangzaun oder Podest»
Dabei hatte «TT» schon mit dem dritten Rang beim letzten Weltcup-Finale gezeigt, dass er sich auf dem Riesen-Hang am Hinterglemmer «Zwölferkogl» richtig wohlfühlt. Zudem hat der Riesenslalom-Spezialist Anfang Dezember in Beaver Creek (USA) seinen ersten Weltcupsieg erkämpft. Wie kann es also sein, dass ein Top-Insider wie Eberharter nicht mit Tumler gerechnet hat? Der Tiroler hat bis jetzt keine Erklärung dafür abgegeben. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass sich Eberharter nach der grandiosen Vorstellung von Tumler im WM-Riesen ziemlich «deppert» vorkommt.
Aber der Reihe nach. Nach dem ersten Durchgang liegt Tumler mit einem Rückstand von sechs Zehnteln auf den Norweger Timon Haugan an sechster Stelle. Seine hochkarätigen Teamkollegen Meillard (zwei Hundertstel zurück) und Marco Odermatt (24 Hundertstel Rückstand) belegen die Ränge zwei und drei. Kurz vor dem entscheidenden Lauf legt sich Tumler eine kompromisslose Taktik zurecht: «Entweder fahre ich jetzt aufs Podest, oder ich lande im Fangzaun!» Trotz einiger heftiger Wackler geht diese Strategie auf – Tumler muss zwar den sensationellen Österreicher Raphael Haaser den Vortritt lassen, dafür überholt er Odermatt, Haugan und Meillard.
Für Tumler ist diese Silbermedaille Gold wert. «Vor drei Jahren musste ich anlässlich der Schweizer Meisterschaften in St. Moritz vor Cheftrainer Tom Stauffer auf die Knie gehen, damit er mich trotz mässigen Ergebnissen nicht aus dem Kader wirft. Ich hätte es mir nicht leisten können, auf eigene Kosten weiterzumachen. Aber Tom hat mir diese letzte Chance gegeben, und ich stehe jetzt mit einer WM-Medaille da. Das fühlt sich traumhaft an!»
Olympiasieger hat ihn vor Fehlentscheidung bewahrt
Eine wichtige Rolle in diesem realen Ski-Märchen spielt auch Sandro Viletta (39), der vor elf Jahren in Sotschi (Russland) Olympiagold in der Kombination gewonnen hat. Der Engadiner hat Tumler nach seinem Rücktritt als Trainer betreut und vor dem vorzeitigen Karriereende bewahrt. «Im November 2021 hat mir Tommy verkündet, dass er seine Ski-Karriere definitiv beenden werde. Am Ende einer langen Diskussion konnte ich ihn dann aber überzeugen, dass er sein Glück ein letztes Mal bei Kontinentalcup-Rennen in Nordamerika probieren soll. Ich habe gewusst, dass ihm der Schnee in Übersee besonders gut liegt», erinnert sich Viletta.
Und tatsächlich: Tumler fuhr dann tatsächlich in zwei sogenannten Nor-Am-Rennen einen Sieg und einen zweiten Rang ein. Ab diesem Zeitpunkt gewann der sensible Kämpfer sein Selbstvertrauen zurück. Zumal er in dieser Phase auch seine Rückenprobleme in den Griff bekam. «Ich habe Sandro extrem viel zu verdanken. Obwohl er seit ein paar Jahren nicht mehr mein Trainer ist, erteilt er mir nach wie vor viele wichtige Ratschläge.»
Unschöne Begegnung mit ORF-Star Assinger
Im Frühling 2014 mussten Viletta und Tumler übrigens gemeinsam die Erfahrung machen, dass sie nicht von allen Österreichern ernst genommen werden. Als die beiden leidenschaftlichen Fussball-Fans in München ein Spiel ihres Herzensklubs Bayern München besuchten, begegneten sie kurz vor dem Anpfiff im VIP-Bereich dem vierfachen Weltcup-Abfahrtssieger und ORF-Star Armin Assinger (60). «Als wir ihn angesprochen haben, ist Assinger wortlos an uns vorbeigelaufen», erzählt Viletta. «In der Halbzeitpause sind wir dann noch einmal auf ihn zugegangen, weil wir uns bei ihm für die Art und Weise, wie er im Fernsehen unsere Skirennen kommentiert, bedanken wollten. Assinger war sichtlich genervt und fragte: ‹Was fahrt ihr denn für Skirennen? Wer seid ihr? Kommt ihr vielleicht aus dem Südtirol?›»
Für Tumler ist es deshalb eine besonders grosse Genugtuung, dass er seine WM-Medaillen ausgerechnet im Land von Assinger und Eberharter gewonnen hat.