In der Biografie von Niels Hintermann spielt Urs Kryenbühl eine ganz besondere Rolle. Weil der «Ürsel» vom Unteriberg SZ demselben Regionalverband angehört wie der in Bülach ZH aufgewachsene Niels, haben sich die beiden Speed-Spezialisten bereits in ihrer Kindheit packende Zweikämpfe geliefert.
«Wenn ich bei den JO-Rennen Niels sah, habe ich zu meinen Kollegen gesagt: ‹Schaut her, da kommt wieder der schnelle Slowene›», erinnert sich Kryenbühl. Hintergrund: Weil seine Mama Sonja aus der Region Kranjska Gora stammt, hat Niels als Bub einen slowenischen Rennanzug getragen. Die Beziehung zwischen Hintermann und Kryenbühl war in dieser Zeit nicht wirklich von Freundschaft geprägt. «Urs war in der Jugendzeit mein härtester Konkurrent, wir haben uns an der Spitze abgewechselt», gab Hintermann in einem Blick-Interview zu Protokoll.
Unerwartete Rückkehr
Im Dezember 2019 haben sich die beiden auch im Weltcup zu Höchstleistungen angestachelt: Bei der berüchtigten «Stelvio-» Abfahrt in Bormio gelang Kryenbühl als Zweiter hinter Dominik Paris erstmals der Sprung aufs Podest, Hintermann verbuchte im selben Rennen als Sechster seine bis dahin beste Platzierung in der Königsdisziplin. Zwölf Monate später raste Kryenbühl auf der «Stelvio» als Dritter erneut aufs Podium. Aber dann entwickelte sich seine Laufbahn in eine komplett andere Richtung als die Karriere von seinem Jugend-Rivalen. Während sich Hintermann mit zwei Siegen und vier weiteren Podestplätzen an der Abfahrts-Weltspitze etablieren konnte, wurde Kryenbühl vor allem durch zahlreiche schwere Verletzungen weit zurückgeworfen.
Seit seinem im Dezember 2022 erlittenen Kreuzbandriss hat der mittlerweile 30-Jährige kein Weltcuprennen mehr bestritten. Zeitweise hat nichts mehr darauf hingedeutet, dass der 1,72-Meter-Mann überhaupt noch einmal in den Ski-Zirkus zurückkehren würde – Kryenbühl hatte sich gedanklich immer mehr vom Rennsport entfernt und liess sich zum Masseur und Hypnotiseur ausbilden. In der finalen Phase vom letzten Winter wurde er dann aber doch noch einmal vom Rennfieber gepackt. Kryenbühel hat sein Comeback bei den Schweizer Meisterschaften in Davos gegeben, wo er als Vierter eine Medaille nur um zwei Hundertstel verpasst hat. «Nach diesem Rennen war mir klar, dass ich meine Rennfahrer-Karriere fortsetzen will.»
Trainer prognostiziert die Rückkehr an die Weltspitze
Danach war es Konditionstrainer Ramon Zürcher, welcher den Körper des leidgeprüften Schwyzers in Top-Form brachte. Doch trotz konstant schnellen Zeiten in den Gletscher-Trainings in Saas Fee hat bis vor zwei Wochen wenig auf ein baldiges Weltcup-Comeback von Kryenbühl hingedeutet. Aufgrund der enormen Leistungsdichte im Swiss-Ski-Team waren kaum Startplätze frei. Nun könnte er aber ausgerechnet von der Leidensgeschichte von seinem speziellen Weggefährten profitieren.
Weil Niels Hintermann nach der Schock-Diagnose Lymphdrüsenkrebs für den kommenden Winter Forfait erklären musste, wird im Schweizer Abfahrtsteam ein Startplatz frei. «Somit wird Urs in den Trainings die teaminterne Qualifikation um die Weltcup-Plätze bestreiten können», bestätigt Abfahrts-Coach Vitus Lüönd. Der Übungsleiter gerät regelrecht ins Schwärmen, wenn er auf Kryenbühl angesprochen wird: «Urs hat sich in den letzten Monaten enorm stark entwickelt. Wenn er gesund bleibt, bin ich mir ziemlich sicher, dass er den Anschluss an die Weltspitze wieder herstellen kann.»
Diese Geschichte ist ein besonderer Beleg dafür, wie schnell sich im Leben alles drehen kann: Während der von vielen abgeschriebene Urs Kryenbühl plötzlich wieder Weltcup-Chancen hat, kämpft Niels Hintermann acht Monate nach seinem glorreichen Triumph bei der Abfahrt in Kvitfjell mit einer Chemotherapie gegen diesen verfluchten Krebs.