Die Welt verneigt sich vor Sofia Goggia (30). Einerseits, weil sie seit Jahren die schnellste Frau auf Ski ist – sie gewann 11 der letzten 16 Abfahrten, die sie bestritt – zuletzt jene in St. Moritz GR. Gleichzeitig schreibt sie Heldengeschichten, die die Menschen staunen lässt.
Rückblick. Vor den Olympischen Spielen in Peking im letzten Februar verletzt sich Goggia bei einem Sturz am linken Knie. Sie gewinnt den Wettlauf gegen die Zeit und holt Silber. Am letzten Wochenende im Engadin schreibt Goggia das nächste Märchen: Nachdem sie sich zwei Knochen in der Hand bricht, fährt sie nach Mailand, lässt sich operieren, startet wenige Stunden später erneut und gewinnt die Abfahrt. Dass ihre Wunde frisch ist und blutet, ist Goggia egal. Sie lässt sich den Stock an die Hand kleben, weil sie diesen nicht greifen kann. «In Peking habe ich eine Olympia-Abfahrt auf nur einem Bein gemacht. Nur eine Hand zu haben, war also okay», sagt sie danach.
Solche Aussagen sind typisch für Goggia. Sie liebt die Show, kokettiert auch gerne mit den Medien. Als Blick sie vor der Saison fragt, welches ihr grösstes Talent neben dem Skisport sei, sagt sie: «Ich löse in Menschen Emotionen aus. Das kann ich ziemlich gut.» Damit hat die Powerfrau aus Bergamo zweifelsohne recht.
Dennoch stellt sich die Frage: Ist Goggia ein gutes Vorbild für junge Athleten? Allein der Gedanke daran, was ihr bei einem Sturz hätte passieren können, lässt einen erschaudern.
«Es ist schwierig zu sagen», findet Michelle Gisin (29). Goggia sei extrem und würde das auch feiern. «Wenn sie wie Phönix aus der Asche steigen kann, gibt ihr das enorm viel Energie – das darf man nicht unterschätzen. Sofia ist halt anders, das macht es spannend.» Die Engelbergerin hat grossen Respekt vor Goggias Leistung, findet sie gar «mirakulös». Sie stellt aber auch klar: «Mikaela Shiffrin oder ich oder wer auch immer würden eine Situation sicher nicht so handhaben, für mich wäre das unvorstellbar.» Ihre Teamkollegin Jasmine Flury (29) findet: «Wenn ich so einen Vorfall hätte wie sie in St. Moritz, bräuchte ich zwei oder drei Rennen Pause.»
Damit spricht Flury auch eine mentale Komponente an. Goggia schafft es wie keine andere, sich zu überwinden – auch bei schwierigsten Voraussetzungen. «Angst darfst du nicht verdrängen, du musst sie umarmen. Die beste Medizin gegen die Angst ist die Liebe», sagte sie vor einem Jahr. Solche und andere ihrer Aussagen als Geschwätz abzutun, würde ihr aber nicht gerecht werden. Goggia ist nicht nur Tochter einer Latein- und Literaturprofessorin und eines Ingenieurs, sondern selbst sehr belesen.
«Es muss nicht jeder so sein»
Zurück zur Frage, ob Goggia nun ein gutes oder schlechtes Vorbild sei. Alle sind sich einig: Nicht nur ihre Klasse auf den Ski, sondern auch der unbändige Wille, mit der sie sich gegen alle Widerstände stemmt, sind bewundernswert. Fakt ist aber auch: Ihre Risikobereitschaft ist aber nicht jedermanns Sache. Gisin: «Sofia wählt einen ganz anderen Weg als viele. Wichtig ist, dass vor allem junge Athleten wissen, dass sie Angst haben dürfen. Es muss nicht jeder so sein.»
Walter Reusser kann das nur unterstützen. Der Schweizer Alpin-Direktor meint: «Jeder hat ein anderes Schmerz- und Angst-Empfinden. Wichtig für uns ist, dass die Athletinnen offen mit ihren Trainern und Ärzten reden. Wir setzen auch nach Verletzungen niemanden unnötig unter Druck, sondern denken langfristig.»