Wendy Holdener (30) verbirgt ihre Müdigkeit nicht. Während des Fotoshootings gähnt sie. «Es wurde spät gestern Abend», sagt sie schmunzelnd. Was nach einer wilden Partynacht tönt, war in Tat und Wahrheit ein Wellnessausflug für die Seele. Holdener sah sich in Zug die neue Comedyshow von «Divertimento» an. «Ich lachte mich kaputt.» Eine willkommene Abwechslung zu ihrem beschwerlichen Alltag mit Krücken. «Es ist eine harte Zeit», sagt sie nachdenklich.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Mitte Dezember verunfallte die Schwyzerin beim Slalomtraining in Pozza di Fassa (Italien). «Es war der heftigste Sturz meiner Karriere.» Sie flog geradeaus in die Fangnetze. Dabei zog sie sich eine Verletzung am Sprunggelenk zu. Seither ist ihr linker Fuss in einem Vakuumkissen verpackt, dazu wird er von einer Kunststoff-Orthese geschützt.
Ohne Krücken darf sie bis zu diesem Tag keinen Meter gehen. Entsprechend hilflos wirkt Holdener in gewissen Situationen, als sie die Schweizer Illustrierte in Magglingen hoch über dem Bielersee empfängt. Im Nationalen Leistungszentrum absolviert die Team-Olympiasiegerin und dreifache Weltmeisterin Teile ihrer Reha. «Kannst du mir bitte das Tablett tragen?», fragt Wendy Holdener beim Gang in die Kantine. Hände hat sie der Gehhilfen wegen keine frei. «Selbstverständlich», entgegnet der Autor. Kurz darauf stehen zwei Äpfel, ein Glas stilles Wasser, ein Salat und ein Teller mit käsegefüllten Omeletten vor Holdener auf dem Tisch. Das Essen schmeckt ihr, aber: «Am besten kocht noch immer meine Mutter.» Daniela Holdener ist gelernte Köchin und verwöhnt ihre Tochter regelmässig. Bis ihre Wohnung in Unteriberg SZ fertig gebaut ist, wohnt Wendy Holdener noch bei ihren Eltern. Ihr Lieblingsmenü? «Ich kann mich gar nicht entscheiden, es ist alles super!»
Dem Freund ganz nahe
Speziell in den zwei Wochen nach dem Sturz, als die Slalomspezialistin nur auf dem Sofa liegen durfte, war das Essen eines ihrer wenigen Highlights. «Nach dem Unfall fiel ich in ein Loch. Ich hatte zwei Wochen lang auf nichts Lust.» Im TV sah sie sich die Netflix-Serie «Virgin River» an. Ein Versuch, auf andere Gedanken zu kommen. Auch die Fanpost trug dazu bei. Holdener erhielt Zeichnungen, Briefe, sogar eine selbst gebackene Rüeblitorte. «Es ist schön, zu sehen, wie viele Menschen an mich denken.» Doch das Allerwichtigste war ihre Familie. «Sie ist immer für mich da.» Mittlerweile kann sie der Verletzung sogar etwas Positives abgewinnen. «Ich habe mehr Zeit für meine Liebsten.»
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Die Liebe ist auch einer der Gründe, weshalb Holdener in Magglingen trainiert. Ihr Freund, Remy Allemann, wohnt in der Region Biel und damit ganz in der Nähe. «Besser hätte ich es nicht treffen können», meint Holdener und lacht. Die Autofahrt dauert keine 30 Minuten. Einen Chauffeur braucht sie nicht; ihr Wagen hat Automatikschaltung. «Immerhin etwas Selbstständigkeit.» Und die Krücken waren nicht nur nachteilig: «Es ist eine Weile her, seit ich das letzte Mal meine Kleider selbst gewaschen habe.»
Zum Skizirkus hält Holdener seit ihrem Unfall bewusst Abstand. Bei den Slalomrennen der Frauen kann sie kaum hinsehen. «Es nervt mich zu sehr, dass ich nicht selbst dabei sein kann.» Trotzdem analysiert sie im Nachhinein jeweils die schnellsten Fahrten. «Ich will wissen, was die Konkurrenz macht.»
Geht es nach Holdener, misst sie sich bald auch wieder real mit den Besten. «Ich möchte in Åre starten.» Die Rennen in Schweden finden am 9. und 10. März statt – ihr Ziel ist ambitioniert. Und typisch Wendy. «Ich muss sie eher bremsen als pushen», erklärt Athletiktrainer Jan Seiler vom Bundesamt für Sport (Baspo). Die beiden arbeiten seit mehreren Jahren zusammen. «Wendy ist eine dankbare Athletin. Sie gibt immer Vollgas.» Was er damit meint? Fordert Seiler 20 Wiederholungen, macht die Schwyzerin 21. «Aber nur, weil wir laut mitzählen», witzelt Baspo-Physiotherapeut Stephan Meyer.
Ein spezieller Reha-Song
Dann übernimmt wieder Seiler das Kommando. «Häbe, häbe, häbe», schreit er durch den Fitnessraum. Holdener verzieht das Gesicht. Die Langhantel auf ihren Schultern drückt sie nach unten. «Schiebe, schiebe, schiebe, allez, Wendy!» Sie muss das Gewicht wieder nach oben pressen. Ihr Kopf läuft rot an, der Schweiss tropft. Vor ihr ist ein Bildschirm voller Zahlen. «Ich verstehe nicht bei allen die Bedeutung. Hauptsache, die Werte werden immer besser», sagt sie noch leicht ausser Atem und macht sich bereit für die nächste Übung. «Ich komme stärker zurück.»
Wer ihr beim Training zuschaut, der hat daran nicht die geringsten Zweifel. Im Hintergrund läuft der Song «Salt and the Sea» von The Lumineers. Eine langsame Melodie. Er passt perfekt in das Musikkonzept von Fitness-DJ Noah Schneeberger, 35. Der Spieler des HC Davos kämpft sich wie Holdener von einer Verletzung zurück. «Am Morgen dominieren ruhige Klänge, aber mit jeder Stunde wird es wilder», erklärt er. Klassische Musik gefällt ihm besonders. Nicht selten spielt er «Die vier Jahreszeiten» von Komponist Antonio Vivaldi.
Für Wendy Holdener darf es gern auch etwas peppiger sein. Sie mag Hip-Hop. Als Schneeberger auf Spotify einen Titel sucht, ruft sie: «Macklemore, der ist gut.» Ein Song begleitet Holdener durch die gesamte Reha-Zeit: «Good To Be» von Mark Ambor. «Der macht einfach gute Laune!» Wobei der Song einen Schönheitsfehler hat. «Er singt von einem Mercedes, dabei fahre ich Audi.»
Was passiert mit den Krücken?
Wie viele PS sie selbst bei ihrem Comeback bereits wieder abrufen kann, wird sich zeigen. An diesem Trainingstag in Magglingen gelingt ihr zumindest ein weiterer Schritt in Richtung schnellstmögliche Rückkehr. Und in den darauffolgenden Tagen wird es noch besser kommen: Seit dem 24. Januar ist Wendy Holdener ihre Krücken los, auch wenn sie diese für weite Strecken noch zu Hilfe nimmt. «Jetzt muss ich wieder laufen lernen.»
Langsam kann sie wieder mit Vollbelastung loslegen. Und, besonders wichtig: «Ich habe schon den normalen Schuh an.»
Nach ein paar Tagen Physio und Training kann Holdener wieder rund laufen. «Die ersten Tage werde ich die Krücken für weite Strecken noch als Hilfe benötigen.» Und was passiert dann damit? «Danach kommen sie normalerweise auf den Estrich oder ich kann sie auch verschenken, wenn sie jemand braucht. Weil eigentlich möchte ich ja nicht, dass sie ich oder jemand von uns noch braucht.»