Er zückt ein Messer, springt drei Schritte vor und schlitzt Ex-Schwinger Kari Zingrich die Kehle auf. Dann rennen die beiden Kosovaren davon. «Als ich die Luftröhre meines Freundes sah, wusste ich: Es geht um Leben und Tod», wird Roland Gehrig (51) später sagen.
Der technische Leiter der Berner Schwinger sitzt neben dem blutenden Zingrich. Für einen Anruf im Spital bleibt keine Zeit. Gehrig dirigiert, verarztet und fährt seinen Freund in den Notfall. Von den Medien wird er als Lebensretter gefeiert.
Das ist fast 13 Jahre her. Öffentlich hat sich Gehrig dazu kaum geäussert. Gegenüber Blick schildert der Berner Holzfäller erstmals ausführlich, wie er die dramatischen Stunden des 15. August 2011 erlebt hat.
Am Anfang steht der Durst
«Hier haben wir gesessen», sagt Gehrig und zeigt auf einen Tisch in der Gartenwirtschaft des Restaurants Waldrand in Interlaken BE. Er steht an der Hauswand, etwas versteckt, hinter einer Ecke. Seit Januar dieses Jahres führt ein Grieche die Beiz. Gehrig bestellt einen Kaffee.
Dann beginnt der Einteilungschef des diesjährigen Schwarzsee-Schwingets zu erzählen. «Ich habe an diesem Montag in Grindelwald gearbeitet.» Kurz nach 20 Uhr sei er am Restaurant vorbeigefahren. «Ich hatte Durst, da habe ich mich hingesetzt und ein Bier getrunken.» Bald einmal verlässt der letzte Gast die Gartenterrasse.
Provozieren, bis das Bier fliegt
Gehrig hat schon bezahlt, als Zingrich mit dem Traktor von der Alp kommt und ihn erkennt. Die beiden trinken ein Bier. Gegen 21.30 Uhr hält ein Taxi. Zwei Kosovaren steigen aus und kommen auf sie zu. «Das Gespräch begann friedlich», erinnert sich Gehrig.
Dann folgen die ersten Provokationen. «Scheiss-Schweizer!», pöbeln die Kosovaren. Sie stehen hinter Ex-Schwinger Zingrich und tippen ihm immer wieder auf die Schulter. Gehrig sitzt ihm gegenüber. Er hört zu.
Auf einmal ruft der eine Kosovare: «Fi** doch deinen Kollegen!» Zu viel für Zingrich. «Er nahm sein fast leeres Bierglas und schüttet ihm den Rest ins Gesicht.»
Überall Blut, aber keine Schmerzen
Als Reaktion zieht dessen Kollege ein Messer und sticht zu. Zingrich wehrt sich mit der linken Hand. Das Messer verletzt einige Sehnen. Gehrig sitzt hilflos daneben. «Es ging viel zu schnell.» Während die Kosovaren flüchten, kümmert sich der 45-fache Kranzgewinner um seinen Freund.
«Ich habe die Kellnerin angeschrien, sie solle mir Handtücher bringen.» Mit der gesunden Hand drückt Zingrich die Wunde zu. Das Blut fliesst über seine Hände. «Ich band ihm ein Tuch um den Hals und eines um die Hand.» Dann zerrt Gehrig seinen Kollegen in den Jeep. «Ich fuhr zügig, aber nicht wie ein Spinner.»
Ein Sack voller blutverschmierter Kleider
Zingrich sagte später gegenüber Blick: «Die ganze Zeit über hatte ich keine Schmerzen. Ich habe nur das Blut gespürt, das mir aus dem Hals lief.» Im Spital entfernten sie das Tuch von seinem Hals, als er Gehrig noch etwas sagen wollte. «Etwas über seine Frau», erinnert er sich. «Dann hat es die Halsschlagader zerfetzt. Das Blut spritzte drei Meter hoch an die Decke. Ein schrecklicher Anblick.» Im Operationssaal kämpfen die Ärzte stundenlang um das Leben des Familienvaters. «Das Schlimmste war die Ungewissheit.»
Gehrig packt die blutverschmierte Kleidung seines Freundes in einen Sack und kehrt zum Tatort zurück. «Ich habe einfach funktioniert.» Wenn der Eidgenosse über diese dramatischen Momente spricht, wirkt er ruhig. Als würde er von seinem letzten Einkauf erzählen. «Dank meiner Familie konnte ich die Geschichte nach ein paar Wochen verarbeiten.»
Täter in der Nacht gefasst
Während Zingrich um sein Leben kämpft, erklärt sich Gehrig bis drei Uhr morgens der Polizei. Zuvor hatte er die Frau des verletzten Kampfrichters angerufen. «Ich habe ihr gesagt, dass etwas nicht gut ist und ihr Mann im Spital liegt.» Das Wort Lebensgefahr verschwieg er vorerst. «Sie war schon geschockt genug.»
Die Polizei schnappt die Täter um ein Uhr nachts in Interlaken. Sie kommen in Untersuchungshaft. Ein Gericht verurteilte den Messerstecher zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe. Zwei Tage nach der Tat titelte der Blick auf der Titelseite: «Kosovare schlitzt Schwinger Kehle auf».
Nach diesem Vorfall lancierte die SVP eine Inseratekampagne gegen die «unkontrollierte Masseneinwanderung» mit dem Titel: «Kosovaren schlitzen Schweizer auf». Zwei Kadermitglieder der Partei wurden dafür zu bedingten Geldstrafen verurteilt. Das Inserat sei rassendiskriminierend, befanden die Lausanner Richter.
Die Erlösung am Telefon
Gegen vier Uhr morgens liegt Gehrig im Bett. «Ich habe kein Auge zugetan.» Ein paar Stunden später geht der Holzfäller wieder seiner Arbeit nach. «Das hat mich abgelenkt.» Seine Gedanken kreisen trotzdem. «Was, wenn er nicht überlebt? Wäre ich gleich nach Hause gefahren, wäre das nicht passiert», überlegt er.
Um ungefähr neun Uhr ruft ihn Zingrichs Frau an. «Er hat überlebt», sagt sie am Telefon. Ein besonderer Glücksmoment für Gehrig. «So etwas vergisst man nie.» Wenige Tage später kann Zingrich das Spital verlassen. Bis heute sind die beiden befreundet.
Ob Zingrich sich bedankt hat? «Er hat mir bestimmt ein Bier bezahlt», sagt Gehrig augenzwinkernd. Zum Schluss betont er: «Ich fühle mich nicht als Held. Wenn es jemandem schlecht geht, hilft man ihm. So bin ich aufgewachsen.»