Die schlimmste Nacht
Als Lario Kramer (26) am frühen Morgen das Sägemehl betritt, liegen schwierige Stunden hinter ihm. «Ich schlief extrem schlecht», erzählt er. Der Eidgenosse nächtigte in einem Hotel in der Nähe des Brünigs. «Ich wachte immer wieder auf, kam nie in die Tiefschlafphase hinein. Gleichzeitig schwitzte ich brutal.» Das habe weniger mit der Nervosität zu tun gehabt, sondern damit, dass er auswärts ohnehin schlechter schlafe. Die unruhige Nacht hat den Südwestschweizer nicht aus der Ruhe gebracht. «Den nötigen Schlaf holst du dir in der Woche vor dem Wettkampf, nicht in der Nacht davor.»
Dass er über mehr als genügend Energie verfügt, beweist Kramer im ersten Gang. Der Gemüsegärtner bettet den Eidgenossen Bernhard Kämpf ins Sägemehl. Auch das Berner Talent Leandro Nägeli (21) kann ihm nichts entgegensetzen. Einen Dämpfer gibt es vor dem Mittag. Kramer verliert kurz vor Schluss gegen Lukas Bissig. «Solang es um den Festsieg oder um eine mögliche Schlussgang-Qualifikation geht, nehme ich volles Risiko.»
Mit zwei weiteren Siegen am Nachmittag befindet sich Kramer weit vorne in der Rangliste. Während Pirmin Reichmuth und Joel Wicki um den Sieg kämpfen, duelliert er sich mit Matthias Aeschbacher um einen Spitzenplatz. Ein Sieg mit der Maximalnote hätte den geteilten Festsieg mit Reichmuth bedeutet. «Es ging nicht viel in diesem Gang. Ich habe mir vor dem Kampf etwas anderes vorgestellt.» Kramer und Aeschbacher stellen. Am Ende wird er Dritter.
Mit dem Brünig-Kranz komplettiert Kramer seine Bergkranzsammlung. «Ein Meilenstein.» Gleichzeitig beendete er eine lange Durststrecke der Südwestschweizer. 2008 sicherten sie sich zuletzt eine Brünig-Auszeichnung. Seither traten sie dreimal erfolglos an.
Das emotionalste Telefonat
Knapp eine Minute nach dem grössten Sieg seiner Karriere greift Luca Müller (20) zum Handy. Noch auf dem Schwingplatz wählte er die Nummer seines Vaters, der ihn den Ferien ist. «Er hat am Telefon nur gejubelt. So wie die ganze Familie», erzählt er wenig später dem Blick. Müller sicherte sich auf dem Brünig seinen ersten Bergkranz. Im letzten Gang bezwang der Zuger den Berner Eidgenossen Philipp Roth. Ein ganz besonderer Moment. Bestimmt auch für seinen Vater, der 2011 auf dem Brünig im Schlussgang stand. Der zweifache Eidgenosse Bruno Müller (46) verlor damals gegen König Matthias Sempach.
Dass auch sein Sohn über grosse Qualitäten verfügt, bewies er 2021 am Eidgenössischen Nachwuchsschwingertag. Müller sicherte sich den Kategoriensieg im Jahrgang 2004. Danach lief es für den gelernten Maurer nicht mehr nach Wunsch. Die vergangene Saison verpasste der 1,94-Meter-Mann mehrheitlich wegen einer Schulterverletzung. Die Rekrutenschule warf ihn körperlich noch weiter zurück. Als Grenadier in Isone bewegte er sich derart viel, dass er an Gewicht verlor. «Ich nahm in den ersten sechs Wochen 12 Kilo ab.»
Sein Körper machte auch in diesem Jahr Probleme. Im Frühling zog er sich im Training einen Rippenbruch zu. «Da ist eine kleine Welt zusammengebrochen. Ich fühlte mich sehr gut, war bereit für diese Saison.» Die Ärzte verordneten ihm für die ersten zehn Wochen ein Schwingverbot. Kurz vor Ablauf der Frist fand das Innerschweizer Schwingfest statt.
Weil er vorher noch einige Trainings absolvieren wollte, stieg er früher wieder in die Zwilchhosen. «Ich sagte meinen Trainingskollegen, dass sie vorsichtig sein sollen.» Der Plan ging auf. Am Innerschweizerischen gewann er den Kranz. Mit der Brünig-Auszeichnung dürfte er sich die Teilnahme am Jubiläumsfest in Appenzell Anfang September gesichert haben. «Das wäre ein grosses Highlight.»
Das erfolgreichste Comeback
Fabian Stucki (19) schreibt auf dem Brünig eine tolle Geschichte. Der Berner sichert sich seinen ersten Bergkranz. Und das nach einer schwierigen Zeit. In der vergangenen Saison hatte er sich im Training das Kreuzband gerissen. «Wenn man sieht, wie die Kollegen schwingen und Kränze gewinnen, plagt einen das. Alle machen Fortschritte und man selbst kann nichts tun. Das nervt.»
Der gelernte Metzger kämpft sich zurück und wird mit dem Bergkranz auf dem Brünig belohnt. «Das macht mich stolz. Das zweite Sternchen ist eine Erlösung.» Wer an einem Teilverbands- oder Bergfest einen Kranz gewinnt, erhält ein zweites Sternchen hinter seinem Namen. Das dritte gibt es für einen Kranz am Eidgenössischen Schwingfest. Bevor es für Stucki vielleicht im nächsten Herbst so weit ist, absolviert er im Januar die Rekrutenschule.
Die speziellste Taktik
Vor einer Woche auf dem Weissenstein zeigte sich Pirmin Reichmuth (28) ratlos. «Ich weiss nicht, was los ist», sagte er gegenüber Blick. Sein grösstes Problem: der erste Gang. Reichmuth startete einmal mehr verhalten in den Tag. Damian Ott (24) legte ihn nach knapp vier Minuten aufs Kreuz. Seinen einzigen Startsieg in dieser Saison feierte der Zuger am Ob- und Nidwaldner Kantonalen gegen den Berner Eidgenossen Severin Schwander (28). Daneben stellte er mit Adrian Odermatt (23) oder Christian Gerber (31).
Damit sich dies auf dem Brünig nicht wiederholt, wählte er eine spezielle Taktik. «Vor dem ersten Gang habe ich mir am Brunnen gesagt, dass ich schon einen Kampf verloren habe.» So baut er die nötige Spannung auf. Sein Plan geht auf. Reichmuth besiegt König Kilian Wenger. Danach marschiert er unaufhaltsam seinem zweiten Brünig-Triumph entgegen. Neben seinem Mentaltrainer dankt er auch dem siebenfachen Eidgenossen Martin Grab, der ihn jeweils auf dem Schwingplatz unterstützt. «Er ist sehr wichtig für mich.»
Der 100. Kranz
Am Emmentalischen 2006 hat Bernhard Kämpf (36) seinen ersten Kranz gewonnen. Seither ist die Sammlung stetig gewachsen. Allein vom Brünigschwinget, den er 2015 und 2017 gewann, hatte er vor dem diesjährigen Fest schon neun zu Hause. Nun kommt dank Platz drei ein Zehnter dazu. Und dieser ist besonders, denn es ist der insgesamt 100. Kranz in Kämpfs Karriere. Und ein Meilenstein, den er als 33. Schwinger erreicht. Er zieht gleich mit Christoph Bieri (38), Karl Oberholzer (1936–2020), Toni Rettich (52) und Josef Sutter (84). Spitzenreiter in dieser Rangliste ist Nöldi Forrer (45) mit 151 Kränzen vor Hans-Peter Pellet (53, 136 Kränze) und Christian Stucki (39, 134 Kränze). Kämpf ist indes nicht der erste Berner, der auf dem Brünig dreistellig wird. Matthias Sempach (38) hat dies 2016 geschafft.
Dabei misslang Kämpf der Start in diesen historischen Tag. Im ersten Gang verlor der Berner gegen Lario Kramer. Vor dem Mittag stellte er gegen den Eidgenossen Jonas Burch. «Diese Kämpfe haben mir zu denken gegeben. Ich wusste, dass ich mir keine Fehler mehr erlauben durfte.» Am Nachmittag blieb Kämpf makellos. Drei Kämpfe. Drei Siege. Zur Belohnung gab es einen goldenen Kranz. Eine Tradition beim 100. Kranzgewinn. «Das ist schon etwas Besonderes. Auch der 10. Brünig-Kranz in Folge bedeutet mir sehr viel.»
Die morgendliche Stärke
Thomas Sempach zählt mit seinen 39 Jahren zweifelsohne zu den Routiniers. Auf dem Brünig bestreitet er sein insgesamt achtes Fest in dieser Saison. Und hält eine Serie aufrecht, die zeigt, wie konstant er unterwegs ist. Denn wie an allen Festen zuvor muss er in den ersten drei Gängen keine Niederlage hinnehmen. Er stellt gegen Michael Gwerder (23) und bezwingt sowohl Ueli Wiget (24) als auch Noe van Messel (22). Beeindruckend. Dennoch reichts am Ende nicht für Karriere-Kranz Nummer 123. Dies, weil es am Nachmittag für den Brünig-Sieger 2016 je einen Sieg, eine Niederlage und einen Gestellten absetzt. Sempach wird am Ende Achter (55,75 Punkte) und verpasst den Kranz um einen halben Punkt.
Kopenhagen und Schwingen
2009, 2012 und 2017 triumphierte Christian Stucki auf dem Brünig. Vor einem Jahr hat der König 2019 die Zwilchhosen an den Nagel gehängt. Schwingen verfolgt er aber weiterhin aufmerksam. Und wenn nicht live vor Ort, dann auch mal am Handy. So auch an diesem Sonntag, als Stucki auf Instagram zeigt, dass er selbst am Flughafen von Kopenhagen (Dä) mitverfolgt, was im Sägemehl läuft. Oder wie er schreibt: «Es geht nicht ganz ohne.»